Im östlichen Mittelmeer steigen die Spannungen. Anfang vergangener Woche gaben israelische Patrouillenboote vor der Küste des Gaza-Streifens mehrere Warnschüsse ab, um das Schiff einer malaysischen Hilfsorganisation zu vertreiben. Die »MV Finch« sollte Material zur Reparatur des Abwassersystems liefern, musste aber nach Ägypten abdrehen.
Wenn es nach Aktivisten in der Türkei und in Westeuropa geht, wird die MV Finch nicht das einzige Schiff bleiben, das in diesem Jahr versucht, nach Gaza durchzukommen. Ende Juni soll ein Konvoi aus 15 Schiffen mit Hilfsgütern in das Gebiet aufbrechen. An der Spitze könnte nach dem Willen der Organisatoren eine alte Bekannte fahren: die »Mavi Marmara«, jenes Schiff, auf dem vor einem Jahr neun Menschen starben.
Proteste Die meisten Schiffe des zweiten Konvois, der mehr als doppelt so groß werden soll wie der erste mit seinen sechs Schiffen, sollen aus westeuropäischen Häfen Richtung Gaza auslaufen. Die Aussicht, dass auch die Mavi Marmara und die umstrittene türkische Hilfsorganisation IHH wieder mit von der Partie sein werden, verleiht dem Unternehmen eine zusätzliche Dimension.
Schon jetzt befürchten einige Beobachter neue Auseinandersetzungen zwischen Ankara und Jerusalem. Eine Gruppe von 36 amerikanischen Kongressabgeordneten bat den türkischen Premier Recep Tayyip Erdogan, er solle die Fahrt der neuen Flottille verhindern. Doch zumindest offiziell steht Ankara auf dem Standpunkt, die Pläne seien eine legale Initiative von regierungsunabhängigen Organisationen, die in einer Demokratie hinzunehmen sei. Der tiefere Grund für solche Aktionen liege in Israels Gaza-Politik.
In der Türkei finden am 12. Juni, zwei Wochen vor dem geplanten Ablegen der Mavi Marmara, Parlamentswahlen statt, die Erdogan mit seiner Regierungspartei AKP gewinnen will. Für viele Türken ist die humanitäre Not im abgeriegelten Gaza-Streifen ein Herzensanliegen. Nach IHH-Angaben haben sich bereits mehr als 5.000 Freiwillige gemeldet, die explizit auf der Mavi Marmara mitfahren wollen, obwohl das Boot nur Platz für etwa 100 Passagiere hat. Vor dem Wahltag ist also kaum mit einem Einspruch Erdogans zu rechnen.
Mavi Marmara Ohnehin ist Ankara derzeit nicht für freundliche Gesten in Richtung Israel zu haben. Die Regierung wartet immer noch auf eine Entschuldigung Jerusalems für den Angriff auf die Mavi Marmara im vergangenen Jahr und auf Entschädigungszahlungen für die Familien der neun Todesopfer. Israel lehnt beides ab, weil es die Mission als aggressiven Akt betrachtete; die Hilfsorganisation IHH ist aus Sicht des jüdischen Staates eine islamistische Extremistengruppe.
Auch Vermittlungsbemühungen der UN haben den Riss zwischen den ehemals engen Partnern Türkei und Israel bisher nicht kitten können. Ein Untersuchungsausschuss der Weltorganisation soll in diesen Wochen seinen Abschlussbericht zu den Vorfällen auf der Mavi Marmara vorlegen, doch sorgen erhebliche Differenzen zwischen Ankara und Jerusalem stets für Verzögerungen. Die Türkei hatte nach dem Angriff ihren Botschafter aus Israel abgezogen und ihn bisher auch nicht wieder auf seinen Posten zurückgeschickt.
Dennoch betonen türkische Diplomaten immer wieder, wie viel der Türkei an einer Aussöhnung mit den Israelis gelegen sei. Man müsse den Zwischenfall vom vergangenen Jahr hinter sich lassen, heißt es. Sollte Jerusalem aber eine Entschuldigung und Entschädigung weiter schuldig bleiben, hat Ankara ein innenpolitisches Problem. Doch zumindest auf wirtschaftlichem Gebiet nähern sich beide Länder wieder einander an. Nach Angaben des israelischen Statistikamts wuchs der Handel zwischen beiden Staaten 2010 im Vergleich zu 2009 um satte 26 Prozent und erreichte ein Volumen von 3,1 Milliarden Dollar.
Eskalation Auf politischer Ebene erscheinen solche Fortschritte bis auf Weiteres unmöglich. Die neue Flottille birgt zudem das Risiko einer weiteren Eskalation. Israels Botschafter, Gaby Levy, brachte den türkischen Behörden gegenüber bereits seine Sorge zum Ausdruck. Und das Außenministerium in Ankara warnte die Israelis vor neuer Gewaltanwendung.
Ob es den USA oder anderen westlichen Staaten gelingt, die Streithähne von einer neuen Eskalation abzuhalten, ist offen. Zumindest derzeit steuern die beiden Ex-Partner geradewegs auf eine erneute Konfrontation zu.