Der mutmaßliche KZ-Aufseher John Demjanjuk, der dieser Tage in München auf sein Urteil wartet, sieht sich als Opfer eines Schauprozesses. Das hat er seinen Wahlverteidiger erklären lassen. Nun wird man der Aussage nur sehr bedingt zustimmen können. Mit Ausnahme einiger showreifer Einlagen des Anwalts hat dieses Verfahren wenig von einer Schau. In München wird kein öffentlichkeitswirksames Exempel statuiert, sondern ein Einzelner muss sich vor Gericht verantworten. Es ist wohl einer der letzten Versuche, einen möglichen NS-Verbrecher für seine Taten zu belangen.
Das Reizwort »Schauprozess« genügt aber offenbar noch immer, um einem Verfahren jede Legitimität abzusprechen. Nirgends wird dies deutlicher als am Beispiel des Eichmann-Prozesses, dessen Beginn sich am 11. April zum 50. Mal jährt. Damals stand der Mann vor Gericht, der den millionenfachen Mord an den Juden bis ins kleinste bürokratische Detail organisiert hatte. Bis heute wird das Verfahren in Jerusalem als Schauprozess par excellence kritisiert. Sicherlich, das war es. Doch was ist schlecht daran?
Rundfunk Wenn heute von einem Schauprozess die Rede ist, heißt es häufig, dass dem Beschuldigten von vornherein keine Chance zur Verteidigung gegeben wird. Aber es kann auch bedeuten, dass ein Verfahren ganz bewusst unter Einbeziehung der Öffentlichkeit geführt wird – wie der Prozess gegen Eichmann, der in einem Theatersaal auf die Bühne gebracht wurde, von wo er jeden Abend eine Stunde lang im israelischen Rundfunk übertragen wurde. Genau darum ging es nämlich. Eichmanns Ankläger schielten nicht nur beiläufig auf den dramaturgischen Wert ihrer Prozesshandlungen, sie erhoben ihn zum Hauptanliegen.
In den Zeugenstand beriefen sie symbolisch einen Überlebenden aus jedem Land, durch das einst Eichmanns Todeszüge gerollt waren. Und wenn die Kameras liefen, ließen die Kläger die Augenzeugen ausreden, manchmal stundenlang – selbst, wenn es ihnen die harsche Kritik etwa von Hannah Arendt einbrachte, sie würden zu weit von der nüchtern-juristischen Schuldfrage abschweifen.
Über die Schoa war bis zu diesem Zeitpunkt in den meisten israelischen Familien geschwiegen worden. Erst, als der Täter Eichmann durch die Wohnzimmer geisterte, wurde der Bann gebrochen. Das macht bis heute die enorme Bedeutung dieses Prozesses für die Entwicklung der israelischen Gesellschaft aus: Endlich kam die Vergangenheit zur Sprache.
Strafen Was kann man sich von einem NS-Prozess mehr erhoffen? Vergeltung womöglich? Die empfand ohnehin niemand, da von den Hunderttausenden, die gemordet hatten, nur eine homöopathisch kleine Täter-Stichprobe je vor einen Richter kam. Abschreckung für die Zukunft? Wenn auf so zahlreiche Verbrechen so wenige Strafen folgen, dann wird das die Völkermörder der Zukunft kaum einschüchtern. Aber ein Verfahren wie das Jerusalemer kann festhalten, was geschehen ist.
Und es ist in der Lage, diese Vergangenheit der ganzen Welt vor Augen zu führen. Das ist nicht wenig, wahrscheinlich sogar das Beste, was ein Gericht für die Überlebenden tun kann. Es schützt sie damit vor Geschichtsklitterern, die die Opfer von gestern tags darauf bereits als Lügner diskreditieren wollen. Im besten Fall kann ein Prozess die Betroffenen sogar ein wenig aufrichten.
Das hatte Nürnberg schon 1946 gezeigt, als sich die NS-Kriegsverbrecher vor Gericht verantworten mussten: Ein Strafverfahren kann die Rechte der Angeklagten respektieren und trotzdem eine Bühne bieten für die bitter notwendige Klarstellung des historischen Geschehens.
Den Alliierten ging es jedoch primär um die Tatsache des deutschen Angriffskriegs. Die Schoa, die für sie kein Kriegsgrund gewesen war, lief nur als Marginalie mit. Diese Lücke schloss erst 15 Jahre später der Staat Israel mit dem symbolträchtigen Eichmann-Prozess.
Mordpläne Der einzige weitere NS-Täter, der danach auf eine israelische Anklagebank gesetzt wurde, hieß übrigens John Demjanjuk. Hier der ehrgeizige Schreibtischtäter Eichmann, dort mutmaßlich einer der vielen tumben Schlächter, die dessen Mordpläne europaweit exekutierten. Bei Demjanjuk, dessen Jerusalemer Prozess im Jahr 1987 begann, gingen mit den Anklägern allerdings vor lauter historischem Anspruch die Pferde durch.
Das bewegte Publikum vor den Fernsehgeräten vergaßen sie keine Sekunde lang, die harte Arbeit am individuellen Schuldnachweis im Gerichtssaal leider schon. Demjanjuk wurde damals freigesprochen.
Sein Prozess ist auf saubere Weise nachgeholt worden. Es war ein leises Verfahren. Der Münchner Gerichtssaal wurde nicht zur Bühne, auf der die historische Wahrheit der gesamten Schoa verhandelt wurde. 50 Jahre nach dem bahnbrechenden Schauprozess gegen Eichmann in Jerusalem ist das nicht mehr nötig.
Der Autor, ausgebildeter Jurist, ist Journalist bei der Süddeutschen Zeitung.