Einen offiziellen Befehl Hitlers zur Vernichtung der Juden haben Historiker bis heute nicht gefunden. Und doch gibt es Anzeichen dafür, dass Anweisungen der Nazi-Führung, alle im deutschen Einflussgebiet lebenden Juden zu vernichten, im Sommer oder Herbst 1941 ergangen sein müssen.
Als ein entscheidendes Datum gilt der 31. Juli 1941 - also nur wenige Wochen nach dem Überfall auf die Sowjetunion: Damals holte sich Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) und ranghoher SS-Führer, von Hermann Göring - der zweitmächtigsten Person nach Hitler - den Auftrag zur Vorbereitung der »Endlösung der Judenfrage«.
»In Ergänzung der Ihnen bereits mit Erlass vom 24. Januar 1939 übertragenen Aufgabe, die Judenfrage in Form der Auswanderung oder Evakuierung einer den Zeitverhältnissen entsprechend möglichst günstigen Lösung zuzuführen, beauftrage ich Sie hiermit, alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflussgebiet in Europa«, heißt es verschleiernd in dem von Göring unterzeichneten Schreiben an Heydrich. Er wird beauftragt, »in Bälde« einen Gesamtentwurf über die notwendigen Maßnahmen »zur Durchführung der angestrebten Endlösung der Judenfrage vorzulegen«.
Die genaue Bedeutung des Dokuments ist allerdings umstritten. Von vielen Historikern wird es als Auftrag der NS-Spitze an die SS interpretiert, den Holocaust zu beginnen. Andere Experten sehen in dem Schriftstück allerdings »nur« den Auftrag, die Möglichkeiten für eine völlige Vernichtung der Juden auszuloten.
Fest steht jedenfalls, dass der Massenmord an Juden in den besetzten Gebieten der Sowjetunion bereits seit Ende Juni 1941 lief. Andererseits ging selbst SS-Chef Heinrich Himmler noch im September 1941 davon aus, dass die »Endlösung« in Form einer Deportation von Millionen Menschen in die unwirtlichen Steppen Russlands bestehen würde. Das würde bedeuten, dass die Radikalisierung hin zum Holocaust zunächst ungesteuert und dezentral stattfand.
Die sich abzeichnenden Rückschläge bei der Eroberung der Sowjetunion sowie der Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 ließen den Judenhass der Nazis dann aber endgültig in ein fest umschriebenes Mordprogramm umschlagen. Bei der Wannseekonferenz, die auf Einladung von Heydrich am 20. Januar 1942 stattfand, stritten hohe Vertreter von Partei und Ministerien bereits darum, welche Gebiete zuerst »judenrein« werden sollten. Das Protokoll verzeichnet mit verschleiernden Begriffen die »Evakuierung« von insgesamt über elf Millionen Juden »nach dem Osten«, ihre Vernichtung durch Arbeit, Hunger und Mord.
Heydrich hatte sich mit Überlegungen zur »Endlösung der Judenfrage« schon in den 30er Jahren innerhalb der NS-Führung hervorgetan und mehrere Schriften dazu verfasst. Der 1904 in Halle an der Saale geborene Sohn des Komponisten und Opernsängers Bruno Heydrich gilt als Inkarnation des Bösen. »Blonde Bestie«, »Dämon«, »Todesgott«, so wird er oft genannt.
Eigentlich sollte Reinhard Tristan Eugen Heydrich Musiker werden. 1922 trat er jedoch in die Reichsmarine ein und brachte es bis zum Oberleutnant zur See. Als er eine Liebschaft auf unschickliche Weise beendete, entließ ihn die Marine-Leitung wegen »ehrenwidrigen Verhaltens«.
Ein Makel, den er durch besonderen Ehrgeiz und Fanatismus ausbügeln wollte. Seit Anfang der 30er Jahre suchte der Oberleutnant in der SS ein neues Karriere-Sprungbrett - zumal er damit seine Verlobte, eine glühende Nationalsozialistin, und deren Familie für sich einzunehmen vermochte. Sein Biograph, der Historiker Robert Gerwarth, bescheinigt ihm antrainierte Kälte, die Kombination aus rein karrieristischem Denken, beflissener Effizienz, später dann fanatische Ideologie und eiskaltes Verbrechertum.
Im Herbst 1941 wurde Heydrich auch zum stellvertretenden Reichsprotektor in Böhmen und Mähren ernannt - ein Amt, das er ebenfalls mit großer Härte ausübte. Am 27. Mai 1942 verübten tschechoslowakische Widerständler ein Attentat auf den 38-Jährigen. Am 4. Juni 1942 erlag der Chefplaner der »Endlösung der Judenfrage« seinen Verletzungen.