Bald 70 Jahre – fast ein Menschenalter – ist die Schoa her. Und doch war sie selten so gegenwärtig wie derzeit. Raubkunst ist das kulturpolitische Thema Nummer eins der vergangenen (und wohl auch kommenden) Monate; Titelthema des »Spiegel« war vorige Woche Cordt Schnibbens Abrechnung mit seinen Nazieltern; die Kinos zeigen aktuell mit Lauf, Junge, lauf ein Holocaustdrama. Die vor ein paar Jahren noch (hoffnungsvoll?) beschworene »Historisierung des Holocaust« findet offenbar nicht statt. Der Schlussstrich wird nicht gezogen.
Manche werden das wieder abtun als »Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken«, von der Martin Walser in seiner Paulskirchenrede 1998 sprach. Doch die Gegenwart jener »Vergangenheit, die nicht vergehen will«, um eine gelungene Formulierung von, ja, Ernst Nolte, zu zitieren, ist nicht Ergebnis finsterer Machinationen »gewisser Kreise«. Sie ist ein spontanes psychologisches Phänomen.
Einzelheiten Bei jedem Trauma ist Schock die erste Reaktion. Wenn dieser allmählich nachlässt, folgt nicht das gnädige Vergessen. Im Gegenteil: Die Konturen des Erlittenen werden in der Erinnerung schärfer, immer mehr Einzelheiten treten hervor, das Bild wird zunehmend klarer und vollständiger. Dann kann auch die Aufarbeitung beginnen, an deren Ende kein Abhaken steht, sondern die Integration des Geschehenen in die Psyche.
Im Fall der Schoa heißt das: Der Völkermord an den europäischen Juden beginnt jetzt vielleicht erst, sich in seiner vollen Dimension zu erschließen. Er bleibt nicht mehr »unbegreiflich«, wie es lange phrasenhaft hieß. Historiker wie Götz Aly haben die auch materiellen Interessen der Täter und Nutznießer herausgearbeitet.
Und auf jüdischer Seite setzt sich die dritte Generation mit der Geschichte, die die ihre ist, auseinander – weniger unmittelbar seelisch belastet als ihre Großeltern und Eltern, aber mit nicht geringerer Intensität. Dafür steht Jom Haschoa am kommenden Montag.
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