Als ich 17 Monate alt war, wand ich mich aus dem Schoß meiner Mutter und rief nach meinem Vater. »Da, Da« weinte ich. Mein Vater verließ seinen Platz auf der Bima, wo er eine Kavannah im Neilah Gottesdienst an Jom Kippur gab, und hielt mich für den Rest des Gottesdienstes in seinen Armen.
Als ich 32 Jahre alt war und endlich den Bus bestieg, der uns nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle bereitgestellt wurde, schrie meine kleine 15 Monate alte Tochter voller Freude und Erleichterung auf, als sie mich sah. »Papa« weinte sie und ich weinte auch und dieser Moment war geprägt von Tragik und Freude.
Für mich ist es unfassbar, dass bereits fünf Jahre vergangen sind seit ich an Jom Kippur in der Synagoge in Halle stand und sich mein Leben für immer änderte. Dieser Tag ist zum einen omnipräsent, zum anderen wie eine Vision aus einer anderen Welt. Eine Erinnerung, getrübt vom Schleier des Traumas.
Keine Antworten, aber Hoffnung
Doch egal wie schwer es ist zurückzuschauen, manchmal ist der Blick nach vorne nochmal schwerer. Ich wurde von einem Rechtsextremisten angegriffen und eine rechtsextreme Partei hat in den ostdeutschen Bundesländern die Landtagswahlen entweder gewonnen oder mindestens ein Drittel der Stimmen erhalten.
Sind wir hier sicher? Und wenn die Antwort darauf »Nein« lautet, wo sollen wir hin?
Das sind die Fragen, die ich mir vor 5 Jahren am 09. Oktober stelle und es sind Fragen, über die ich auch heute noch brüte. Ich habe zwar keine Antworten, aber ich habe Hoffnung.
Koscheres Bier
Denn während manche Erinnerungen dieses Tages vernebelt sind, sehe ich andere so klar vor mir, als wären sie heute passiert. Ich erinnere mich daran, wie wir mit dem Bus zum Krankenhaus gebracht wurden, wie das Krankenhauspersonal uns begrüßt hat, in ihren Händen Spielzeuge für meine Tochter.
Ich erinnere mich an die Frau, die mit ihr stundenlang spielte. Ich erinnere mich an Hendrik Liedtke, der andere daran hinderte, unser Neïlah-Gebet zu unterbrechen und uns später Bier brachte, nachdem ich ihm versicherte, dass es koscher sei. Neïlah ist der Abschluss und der Höhepunkt des gemeinsamen Gebetes am Jom Kippur.
Etwas Hoffnung
Vor einem Jahr sind meine Frau und ich nach Halle zurückgekehrt, um dort Jom Kippur zu feiern. Es war größtenteils ereignislos. Die Gebete waren schön, die Gesellschaft liebenswert. Am Ende der Neïlah kam Liedtke herein - in seinen Händen einen Kasten Bier. Es ist nun seine Angewohnheit geworden, der Jüdischen Gemeinde von Halle am Ende von Jom Kippur Bier zu bringen.
Als wir zusammensaßen und unser Bier tranken, erzählte er mir, dass er nächstes Jahr wiederkommen werde, genauso wie das Jahr darauf und dass er diese Tradition so lange aufrechterhalten werde, wie es ihm möglich ist.
Heute appelliere ich an euch in euren Herzen auch etwas Hoffnung zu finden. Tausende Jahre lang hat unser Volk Hoffnung gehabt. Und die Hoffnung auf eine bessere Welt ist wahrscheinlich unser größter Akt des Widerstands.
Dieser Text ist zuerst bei »Eda« erschienen, dem Magazin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland. Mehr Informationen finden Sie auf der Website oder dem Instagram-Kanal von »Eda«.
Der Autor, Jeremy Borovitz, ist Rabbiner und Chief Programming Officer bei Hillel Deutschland. Er stammt aus New Jersey, hat aber auch in Polen, der Ukraine und Israel gelebt. Er wohnt mit seiner Frau, der Rabbinerin Rebecca Blady, und ihren drei Kindern in Berlin.