Vor einigen Jahren überraschte der Schweizer Schriftsteller Urs Faes mit seinem Roman Sommer in Brandenburg, in dem die Liebesgeschichte von Lissy Harb und Ron Berend im Mittelpunkt steht. Lissy und Ron sind junge deutsche Juden, die Ende der 30er-Jahre zwischenzeitlich in einem zionistischen Hachschara-Zentrum Zuflucht vor dem immer aggressiver auftretenden Naziregime finden.
Die Hachschara-Zentren, von denen es zu jener Zeit in Brandenburg tatsächlich rund ein Dutzend gab, verhalfen jungen Juden zu einer soliden landwirtschaftlichen Ausbildung und boten so eine gute Ausgangsposition für die Immigration nach Palästina.
Solidarität Unter dem nationalsozialistischen Verfolgungsdruck wurden diese Zentren bei jungen deutschen Juden immer beliebter – als Inseln der Geborgenheit und der Solidarität, aber auch der Hoffnung, sich eine neue Lebensperspektive in Eretz Israel schaffen zu können. Urs Faes’ Roman basiert auf authentischen Geschichten und Erfahrungen, die sich unter anderem im Hachschara-Zentrum Ahrensdorf bei Luckenwalde zugetragen haben.
Jedes einzelne Schicksal ist eine bewegende Geschichte für sich.
Vor 30 Jahren allerdings, Ende der 80er-Jahre, war die Geschichte vieler Hachschara-Zentren in Deutschland – nicht nur derer in der DDR – weitgehend vergessen, oder sie wurde bewusst ignoriert. Und auch deren einstige Bewohner sahen ihrerseits keinen Anlass, sich noch einmal dort umzuschauen. Trotzdem gab es Menschen, die sich für diese Orte interessierten. Wie Herbert Fiedler.
Der langjährige Volkshochschuldirektor ging im Frühjahr 1989 gemeinsam mit Abiturienten auf Spurensuche. »Wir wollten die jüdische Geschichte in der Stadt ergründen«, erinnert sich der 92-Jährige. »Es war dazu so gut wie gar nichts bekannt. Also begannen wir, uns in Archiven umzuschauen, was gar nicht so einfach war, und irgendwann trafen wir den Journalisten Werner Goldstein«, erzählt Fiedler. »Er war der Erste, der uns auf ein ›jüdisches Jugendlager‹ in Ahrensdorf, in der Nähe der Kleinstadt Trebbin im Kreis Luckenwalde, aufmerksam machte.«
obstplantagen Goldstein, in den 30er-Jahren selbst Teenager in der Stadt, besuchte das Zentrum häufig an den Wochenenden. Hinweise von ihm und von Westberliner Zeitzeugen, die nach dem Mauerfall Ende 1989 hinzukamen, brachten schließlich Bewegung in die Sache. Fiedler und seine Gruppe suchten nun das ehemalige Jagdschlösschen »Berdotaris« am Rande von Ahrensdorf auf, das den Kern des damaligen Hachschara-Lagers gebildet hatte. Nach dem Krieg war dort ein Seniorenwohnzentrum eingezogen.
1936 hatte die Reichsvertretung der Juden in Deutschland das Jagdschlösschen nebst umliegendem Gelände in Pacht genommen und damit begonnen, dort Jugendliche für eine landwirtschaftliche Ausbildung unterzubringen. Das Gelände von insgesamt 30 Hektar hatte neben landwirtschaftlicher Nutzfläche auch Obstplantagen zu bieten; zudem wurden Werkstätten aufgebaut.
Bis zur erzwungenen Schließung 1941 durchliefen mehrere Hundert Jugendliche das »Landwerk Ahrensdorf«, wie es häufig genannt wurde. Viele von ihnen fanden danach tatsächlich ihren Weg ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina, andere verschlug es unter anderem nach Schweden und in die USA.
»Es war ein großer Glücksfall für mich«, freut sich Herbert Fiedler noch heute, »dass ich Anfang der 90er-Jahre gerade in Rente ging. Nun hatte ich also den Rücken frei, um mich mit ganzer Zeit, Energie und Aufmerksamkeit darauf zu konzentrieren, die ehemaligen Ahrensdorfer in aller Welt ausfindig zu machen – und Kontakt mit ihnen aufzunehmen.«
Lächelnd fügt er hinzu: »Ein zweiter großer Glücksfall war, dass meine ganze Familie verstanden hat, wie wichtig diese Aufgabe war. Insbesondere meine Frau Ruth und unsere Tochter Monika haben gleich mit losgelegt.«
Luckenwalde Während Herbert Fiedler es schafft, auch in den Folgejahren Abiturklasse für Abiturklasse für weitere Recherchen zu dem Projekt »Ahrensdorfer in aller Welt« zu gewinnen, baut eine Gruppe Luckenwalder Schüler das gesamte Hachschara-Zentrum detailgetreu in einem kleinen Holzmodell nach, gründet sich ein Hachschara-Förderverein in Luckenwalde, wird eine Dauerausstellung im nahe gelegenen Gymnasium von Trebbin konzipiert.
Der Verein zieht nach und nach immer mehr Interesse auf sich. Nichtjuden wie Juden, Historiker, Archivare, auch einige potenzielle Förderer und Sponsoren fragen nach. Derweil wird die Zahl der Korrespondenzen umfangreicher, immer mehr ehemalige Ahrensdorfer melden sich. Doch nur ein Teil von ihnen schafft es, noch einmal nach Deutschland zu kommen.
Umso häufiger sind Herbert Fiedler und sein Freiwilligenteam in Israel unterwegs, wo die Ahrensdorfer an der Gründung von mindestens drei Kibbuzim – Maayan Zvi, Yakum und Netzer Sereni – entscheidend beteiligt waren. Dort begegnen die deutschen Besucher sehr aufgeschlossenen Gesprächspartnern, und schnell wird klar, dass die vielfältigen und bewegenden Erinnerungen möglichst bald auch für später festgehalten werden müssen.
odyssee An dieser Stelle erfährt der Luckenwalder Verein schließlich große Unterstützung durch das Berliner Centrum Judaicum und seinen damaligen Direktor Hermann Simon. Eine siebenteilige Broschüren-Serie mit dem Titel Träume und Hoffnungen gibt bald darauf interessante Einblicke in die Mühen und Freuden des damaligen landwirtschaftlichen Alltags. Sie erzählt von verschworener Gemeinschaft, von der ersten großen Liebe, von Visionen und Zukunftsentwürfen, aber auch von grausamen Erfahrungen, nachdem die Bewohner ihre geschützte Insel verlassen mussten.
Denn für viele der jungen Juden beginnt nach dem Ende der Ausbildung eine Odyssee, bis sie tatsächlich in Palästina oder anderen sicheren Regionen ankommen. Manche Landreisen und Schiffsüberfahrten werden so zum ungewollten Abenteuer, während andere »Ahrensdorfer« von deutschen Soldaten, SS und regionalen Kollaborateuren ermordet werden, noch bevor sie ihr rettendes Ziel erreichen können.
Jedes Ahrensdorfer Schicksal ist eine bewegende Geschichte für sich. Manche setzen später hundertprozentig um, was sie im Hachschara-Zentrum gelernt haben: Sie werden kreative Siedlungspioniere und »Kibbuzniks«. Andere werden Künstler, Pädagogen und Unternehmer.
treffen 1994 gelingt es Herbert Fiedler und seinen deutschen und israelischen Mitstreitern, im Kibbuz Maayan Zvi bei Haifa ein erstes großes Treffen der einstigen Hachschara-Teilnehmer zu organisieren. Gerade dieses Treffen ist Herbert Fiedler nachhaltig in Erinnerung geblieben: »Gemeinsam mit Shlomo Tamir, der in Maayan Zvi mit seiner Frau Ruth lebte, bereiteten wir dieses Treffen langfristig vor.«
Am Ende konnten 56 der einst 304 Hachschara-Teilnehmer kommen, darunter auch einige ehemalige »Ahrensdorfer« aus Deutschland und Schweden.
»Es war ein ergreifendes, überwältigendes Treffen. Viele von ihnen sahen sich das erste Mal seit Jahrzehnten wieder. Andere kannten sich noch gar nicht, da sie zu ganz unterschiedlichen Zeiten in Ahrensdorf gelebt hatten«, erzählt Fiedler.
Video Im Laufe der kommenden Jahre werden vom Luckenwalder Verein mehr als 50 Video-Interviews gedreht, und 2014 ist die Geschichte des Hauses und seiner einstigen Bewohner so gut erforscht, dass die Fiedlers einen höchst spannenden Band Hachschara – Vorbereitung auf Palästina – Schicksalswege herausbringen. Aber die Geschichte geht weiter, denn noch immer melden sich Ahrensdorfer von damals.
»Eigentlich vergeht keine Woche ohne Anruf oder Briefe«, freut sich Fiedler. In Israel hat er zahlreiche Ehrungen erhalten, aber darüber will er gar nicht unbedingt sprechen.
»Unser Verein hat seinen Zweck inzwischen erfüllt«, sagt er. »Alle wesentlichen Dokumente, Fotos und auch die vielen Interview-Videos sind im Kreisarchiv von Luckenwalde in guten Händen.«
Der größte Traum des Vereins – ein internationales Begegnungszentrum im einstigen Hachschara-Hauptgebäude des Brandenburger Ortes aufzubauen – hat sich bisher noch nicht erfüllt. Vielleicht aber ist dies ja die Vision für Generation zwei, drei oder vier.