Seit Monaten legt sich der Chef der russischen Privatarmee Wagner, Jewgeni Prigoschin, wegen des Kriegsverlaufs in der Ukraine mit der Militärführung in Moskau an. Nun aber forderte der 62-Jährige auch Kremlchef Wladimir Putin offen heraus. Inzwischen geht es um viel mehr als um die richtige Taktik gegen Kiew.
Früher mied der langjährige Vertraute Putins die Öffentlichkeit. Doch zuletzt griff er besonders Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow immer wieder an. Er warf ihnen vor, die regulären Truppen nicht ordentlich zu führen. Oft beklagte er sich über mangelhafte Versorgung seiner Kämpfer mit Munition und militärischer Ausrüstung.
BIOGRAFIE Prigoschin wuchs wie Putin in St. Petersburg auf. Er wurde am 1. Juni 1961 als Sohn eines jüdischen Vaters geboren. Er verlor seinen Vater, als er ein Jahr alt war. Sein Adoptivvater war ebenfalls Jude.
Prigoschin gilt als skrupelloser Geschäftsmann mit krimineller Vergangenheit. Er und Putin kennen sich lange. Als der heutige Präsident noch in der St. Petersburger Stadtverwaltung arbeitete, soll er in Prigoschins Restaurant eingekehrt sein. Deshalb ist der Russe, der früher wegen Raubs in Haft saß, unter dem Namen »Putins Koch« bekannt.
Der Mann mit dem kahlgeschorenen Kopf ist Chef des Firmenimperiums Concord und soll sich mit seiner auf Desinformation spezialisierten Internet-Trollfabrik 2020 auch in die US-Präsidentenwahl eingemischt haben. Deshalb haben ihn die Vereinigten Staaten zur internationalen Fahndung ausgeschrieben. Die Wagner-Truppen gelten im Westen als »Terrororganisation«, verantwortlich für Kriegsverbrechen in vielen Ländern.
DONBASS Im September vergangenen Jahres - nach einem halben Jahr Krieg in der Ukraine - räumte Prigoschin erstmals öffentlich ein, die Söldnertruppe gegründet zu haben. Er habe die Einheit schon 2014 für den Einsatz auf russischer Seite im ukrainischen Donbass gebildet.
Deren »Mut und Tapferkeit sei die ›Befreiung‹ vieler Gebiete in Luhansk und Donezk zu verdanken« gewesen, so Prigoschin. Zuvor hatte Prigoschin seine Verbindung zu den Söldnern nie eindeutig bekannt. Auch Moskau bestritt die Existenz der Kampftruppe jahrelang vehement.
Als zweiter Gründer ist der ehemalige Geheimdienstler Dmitri Utkin bekannt, der offizielle Wagner-Kommandeur. Ihm wird eine Vorliebe für den deutschen Komponisten Richard Wagner nachgesagt - daher auch der Name der Truppe.
MASSAKER Im Ukraine-Krieg spielt die Gruppe eine zentrale Rolle: Als Prigoschins größter militärischer Erfolg gilt die blutige Eroberung der ostukrainischen Stadt Bachmut. Die Gruppe soll auch an dem Massaker in Butscha beteiligt gewesen sein.
Wagner-Kämpfer waren auch in Syrien, anderen arabischen Ländern sowie in Afrika und Lateinamerika im Einsatz, und sind es auch heute noch. Dort liegt auch eine Geldquelle der Truppe: Die Gruppe bietet skrupelloses Personal und Dienstleistungen. Dafür gibt es Geld und Rohstoffe wie Gold. In Russland verdient Prigoschin viel Geld mit der Essensversorgung beim Militär, aber auch in Schulen und Kindergärten.
Die Wagner-Gruppe rekrutiert ihre Mitglieder unter Freiwilligen - im Ukraine-Krieg auch unter Häftlingen. Ihr Chef lockt Schwerverbrecher mit dem Versprechen, dass sie nach halbjährigem Kriegsdienst begnadigt werden. 32.000 Ex-Gefangene sollen so schon in Freiheit gekommen sein.
Etwa 10.000 frühere Häftlinge wurden nach Prigoschins Angaben allerdings allein im Kampf um Bachmut getötet. Zudem drohen den Kämpfern bei Fluchtversuchen Hinrichtungen. Für internationales Entsetzen sorgte ein Video, das zeigen soll, wie ein abtrünniger Wagner-Kämpfer mit einem Vorschlaghammer getötet wird.
AMBITIONEN Prigoschin meuterte nun offensiv gegen die russische Militärführung - seine Leute hatten nach eigenen Angaben wichtige militärische Objekte in Rostow am Don im Süden Russlands besetzt. Klar ist, dass er sich nicht wie von Putin gefordert ergeben wollte.
In einem Video drohte er mit dem Vormarsch nach Moskau. Experten sagten ihm schon eigene Ambitionen aufs Präsidentenamt nach, was er stets bestritt. Putin spricht er von »Verrat« und einem »Stoß in den Rücken« durch den Aufstand der Privatarmee Wagner von Prigoschin.
Erst kurz zuvor hatte Prigoschin erstmals öffentlich mit Putin gebrochen, dem er unlängst noch die Treue schwor und »meinen Oberbefehlshaber« nannte. Der 62-Jährige warf dem Kremlchef eine grobe Fehleinschätzung der Lage vor. Der Präsident irre sich schwer, wenn er Wagner-Leute, die bei den Kämpfen ihr Leben geben, als »Verräter« bezeichne. »Wir wollen nicht, dass das Land weiter in Korruption, Betrug und Bürokratie lebt«, sagt Prigoschin zu seinen Motiven.
NÄHE Allerdings hat er selbst seit Jahrzehnten gerade von diesem System profitiert und vom Kreml Milliardenaufträge erhalten. Prigoschin galt stets als der Unantastbare - auch wegen seiner Nähe zu Putin.
Unterdessen gab der Kreml am späten Samstagabend bekannt, dass das Strafverfahren gegen Prigoschin wegen des bewaffneten Aufstands gegen die Militärführung eingestellt wird. Prigoschin selbst werde nach Belarus gehen, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Samstag der russischen Nachrichtenagentur Interfax zufolge.
Auch die Kämpfer der Wagner-Truppe sollen angesichts ihrer Verdienste an der Front in der Ukraine nicht strafrechtlich verfolgt werden, wie Peskow weiter erklärte. Zuvor hatte der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko Prigoschin nach eigenen Angaben dazu gebracht, seinen Aufstand aufzugeben.
RÜCKZUG Prigoschin selbst äußerte sich nicht unmittelbar dazu. Kurz zuvor hatte er aber angekündigt, den Vormarsch seiner Einheiten auf die russische Hauptstadt Moskau zu stoppen. »Unsere Kolonnen drehen um und gehen in die entgegengesetzte Richtung in die Feldlager zurück«, sagte er in einer von seinem Pressedienst auf Telegram veröffentlichten Sprachnachricht.
Bislang sei »nicht ein Tropfen Blut unserer Kämpfer« vergossen worden, sagte Prigoschin. »Jetzt ist der Moment gekommen, wo Blut vergossen werden könnte.« Deshalb sei es Zeit, die Kolonnen umdrehen zu lassen, begründete er den Rückzug.
Es war zunächst nicht klar, ob Prigoschin neben der Straffreiheit noch weitere Zugeständnisse gemacht oder in Aussicht gestellt wurden, um den Vormarsch seiner Truppen auf Moskau zu stoppen. dpa/ja