Dutzende offene Fragen, viel und deutliche Kritik - aber keine Antworten: Einen Monat vor der bayerischen Landtagswahl hat die Opposition Ministerpräsident Markus Söder und dessen Vize Hubert Aiwanger in der Flugblatt-Affäre mangelnden Aufklärungswillen vorgeworfen. In einer Sondersitzung im Landtag wurde das Verhalten des CSU-Vorsitzenden und des Freie-Wähler-Chefs als insgesamt unwürdig oder auch rein taktisch kritisiert. Mehrere Redner forderten beide auf, vor dem Parlament zu zahlreichen offenen Fragen Stellung zu nehmen - vergeblich: Söder und Aiwanger schwiegen im Landtag zu der Affäre und überließen ihren Fraktionsspitzen die Verteidigung.
»Viele Fragen sind offen, Sie werden sie wahrscheinlich nie beantworten«, kritisierte Grünen-Fraktionschef Ludwig Hartmann. Er setzte mit einer ernsten, aber deutlichen Rede den Ton für die Debatte im Zwischenausschuss, einer Art verkleinertem Plenum kurz vor Landtagswahlen. »Das ist einer bayerischen Regierung unwürdig.«
Hartmann beklagte, wie weitere Oppositionsredner nach ihm und zuvor schon der Zentralrat der Juden, bei Aiwanger fehlende »Reue und Demut«. »Wie klingt für Sie eine ehrliche Entschuldigung?«, fragte er. Und sprach offensichtliche Widersprüche in Aiwangers Antworten zur Flugblatt-Affäre an: dass er angebe, der »Vorfall« sei für ihn ein »einschneidendes Erlebnis« gewesen, aber viele Erinnerungslücken geltend mache. Den Ministerpräsidenten fragte Hartmann, ob und warum ihm Aiwangers Verhalten ausreiche, um diesen im Amt zu belassen. »Haben Sie bei Ihrer Entscheidung Machterhalt über Haltung gestellt?«
Ein Antrag von Grünen und SPD auf Entlassung Aiwangers wurde von der Mehrheit im Zwischenausschuss abgelehnt - genauso wie gleich zu Beginn Anträge auf eine förmliche Befragung Söders und Aiwangers.
Aiwanger hatte vor zwei Wochen zunächst schriftlich zurückgewiesen, zu Schulzeiten ein antisemitisches Flugblatt geschrieben zu haben, über das die »Süddeutsche Zeitung« berichtet hatte. Es seien aber »ein oder wenige Exemplare« in seiner Schultasche gefunden worden. Kurz darauf bezichtigte sich sein Bruder als Verfasser. In der Folge wurden immer mehr Vorwürfe zu Aiwangers damaligem Verhalten erhoben. Nach mehreren Tagen entschuldigte er sich, beklagte aber eine Kampagne gegen sich. Söder hält dennoch an ihm fest: Eine Entlassung wäre nicht verhältnismäßig, erklärte Söder am Sonntag.
Die Fronten im Landtag waren auch vor der Sondersitzung am Donnerstag von vornherein klar: CSU und Freie Wähler wollen ihre Koalition auch nach der Wahl am 8. Oktober fortsetzen. Auch Söder selbst hatte - sogar auf dem Höhepunkt der Affäre um seinen Vize - keine Gelegenheit ausgelassen, sich zu den Freien Wählern zu bekennen. Ein mögliches schwarz-grünes Regierungsbündnis schließt er weiter kategorisch aus.
Söder habe eine Entscheidung mit Augenmaß und Haltung getroffen und sich nicht von »Geschrei« der Opposition beeindrucken lassen, sagte der parlamentarische CSU-Geschäftsführer Tobias Reiß. Es gebe keinen Beweis, dass Aiwanger als Schüler das Hetzblatt verfasst oder verbreitet habe. »Dagegen steht seine Erklärung, dass er es nicht war.« Reiß übte gleichwohl harsche Kritik an Aiwangers Umgang mit den Vorwürfen und seinem Krisenmanagement. Er habe sich erst spät entschuldigt. »Aufrecht, mutig und direkt heraus sein muss man nicht nur im Bierzelt.«
Freie-Wähler-Fraktionschef Florian Streibl verteidigte Aiwanger: »Innerhalb einer Woche diese Aufklärung zu liefern, ist bei dem Sachverhalt sehr gut«, sagte er. Der Vize-Ministerpräsident habe letztlich »glaubhaft versichert, nicht der Verfasser des Flugblatts zu sein«, und sich entschuldigt, sagte Streibl. »Es erfordert Mut, Fehler einzugestehen, und diesen Mut hat Hubert Aiwanger bewiesen.« Der Opposition warf Streibl Doppelmoral vor. Durch die Vorwürfe sei »für amerikanische Wahlkampfverhältnisse gesorgt« worden, während den Freien Wählern und Aiwanger Populismus vorgeworfen werde, sagte er.
SPD-Fraktionschef Florian von Brunn warf Aiwanger vor, sich zum Opfer zu stilisieren, das sei »unwürdig«. »Es geht aber nicht um Sie. Es geht um das Amt und das Ansehen des Freistaats Bayern.« Es sei auch bei Aiwangers Rede auf einer Kundgebung in Erding deutlich geworden, dass er Menschen aufwiegele, um daraus politisch Profit zu schlagen. Das sei ein klares Zeichen für Rechtspopulismus. Grünen-Fraktionschefin Katharina Schulze warnte, kein Demokrat und keine Demokratin dürfe dies tun.
FDP-Fraktionschef Martin Hagen sagte: »Was ein Mensch mit 16 Jahren gesagt oder getan hat, darf ihn nicht ein Leben lang für politische Ämter disqualifizieren.« Er kritisierte aber Aiwangers Umgang mit der Affäre - und dass dieser nicht bereit sei, sich im Landtag zu erklären. AfD-Fraktionschef Ulrich Singer nahm Aiwangerdagegen in Schutz. »Was wir da erlebt haben, war ein politisches Schmierentheater«, sagte Singer. Der Freie-Wähler-Chef sei von Söder mit dessen Fragenkatalog behandelt worden »wie ein Schuljunge«.