Mittelalterliche »Judensau«-Skulpturen und Bildmotive, die in zahlreichen Kirchen angebracht oder auch auf dort hängenden Gemälden zu sehen sind, haben durch die Jahrhunderte das Bewusstsein und das Denken der deutschen Bevölkerung zutiefst geprägt – und prägen es noch heute. Schimpfwörter wie »Judensau«, »Judenschwein« oder »Saujude« haben in diesen Skulpturen und Abbildungen des Hochmittelalters ihren Ursprung. Sie wirken, wie gesagt, bis in unsere Gegenwart und lösen in Abständen hitzige Debatten aus.
Die in Stein gemeißelten oder aus Ton geformten »Judensau«-Skulpturen, um die es hier geht, sind bildhafte, zum Handeln auffordernde Schmähungen, die zudem noch einen obszönen Charakter haben. Sie begleiten die Juden durch die Jahrhunderte. Sich ihnen und der von ihnen ausgehenden »Botschaft« zu entziehen, ist so gut wie unmöglich.
Was grölten einst die Corpsstudenten und Judenhasser auf den Straßen Berlins in der Zeit der Weimarer Republik? »Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverfluchte Judensau«? Diese Pöbelei oder, besser gesagt, diese Verunglimpfung zielte ganz bewusst auf die Ermordung des damaligen deutschen Außenministers. Der Fall zeigt, dass es von der Schmähung zur Tat mitunter keines längeren Nachdenkens und Zögerns bedarf.
Schmähungen Beleidigende Schmähungen und Schimpfworte wie »Judensau« oder »Judenschwein« sind heute noch immer zu hören. Wer sie heute gegenüber seinen Mitmenschen benutzt, macht sich, und das ist immerhin schon ein kleiner, aber durchaus bedeutender Fortschritt, zwar nach § 185 des Strafgesetzbuches strafbar. Aber das ist es auch schon. Nachdenklich stimmt, dass Schimpfworte wie »Judensau« oder »Judenschwein« gar nicht der Existenz des authentischen Juden bedürfen. Sie sind zu freischwebenden Vorurteilen geworden, die sich gegen jedermann richten können.
Sie können sich gegen einen missliebigen Nachbar richten, mit dem man im Streit über irgendwelche Nichtigkeiten liegt; aber sie können sich auch auf den Schiedsrichter auf dem Fußballplatz beziehen, den man als »Judensau« tituliert, weil er mit einer seiner Entscheidungen die Wut von Fans im Stadion erregt hat. Diejenigen, die sich zu solchen Schimpfkanonaden und Schmähungen hinreißen lassen, wissen meist gar nicht, was sie da lautstark vor sich hin brüllen. Der eine oder andere ahnt vielleicht, dass er mit seinen Pöbeleien einen Tabubruch begeht. Ein irgendwie geartetes Unrechtsbewusstsein hat er dabei jedoch in der Regel nicht.
Wittenberg Die Debatte um die »Judensau«-Skulpturen, die gegenwärtig die Gemüter hochkochen lässt, hat sich an dem Streit entzündet, ob das Sandsteinrelief in der Stadtkirche der Lutherstadt Wittenberg entfernt werden soll oder nicht. Das Relief aus dem Jahre 1305, das Objekt des Anstoßes, zeigt einen Rabbiner, der einem Schwein unter den Schwanz blickt und dort auf charakteristisch gekleidete Juden herabsieht, die an den Zitzen der Sau zutzeln.
Dieses Spottbild, dessen verhöhnender Charakter unverkennbar ist, hatte im Jahre 2017 – es war wohlgemerkt das Jahr des 500. Reformationsjubiläums – dazu geführt, dass ein Zeitgenosse, der Anstoß an dieser »Judensau«-Skulptur nahm und sich über diese ärgerte, sich mit der Forderung an Stadt und Kirche in Wittenberg gewandt hat, das Relief aus der Stadtkirche zu entfernen. Als Begründung gab er an, dass er sich nicht nur persönlich verhöhnt fühle, sondern dass es sich darüber hinaus um eine handfeste Beleidigung der Juden in ihrer Gesamtheit handele, die so nicht weiter hingenommen werden dürfe.
Der Fall, in den Medien viel beachtet, landete vor dem Landgericht Dessau, das die Klage abschmetterte mit der Begründung, das Relief sei Teil des historischen Baudenkmals der Stadtkirche und weder als Missachtung der Juden in Deutschland noch als Beleidigung des Klägers zu verstehen. Auch das Oberlandesgericht Naumburg als nächste Instanz wies die Berufungsklage ab. Die Abweisung folgte der Begründung des Dessauer Landgerichts.
Gerichte Dazu kann man nun stehen, wie man will. Eines sollte dabei jedoch festgehalten werden. Keinesfalls ist es Aufgabe der Gerichte, sich mit strittigen Fragen der Gedenkkultur zu befassen. In einer demokratisch verfassten Gesellschaft sollten Gedenkdebatten, ob es sich nun um die Wittenberger Skulptur oder um ein anderes Ärgernis handelt, offen und ohne Strafandrohung geführt werden. Am Ende einer solchen Debatte wird sich herauskristallisieren, was wirklich bewahrenswert beziehungsweise gedenkwürdig ist – und was nicht.
Dass man die Skulptur in der Wittenberger Stadtkirche abnimmt und diese in ein Museum bringt oder in ein vor der Kirche zu errichtendes Denk- beziehungsweise Mahnmal integriert, darüber kann man sicherlich diskutieren. Aber was erreicht man mit einer solchen Maßnahme? Sinnvoller wäre es, die Schmähskulpturen an den Wänden der Kirchen bleiben zu lassen, und zwar dort, wo sie gegenwärtig sind. Denn ihre Entfernung löst die mit einer solchen Schmähskulptur verbundenen Probleme nicht. Ganz im Gegenteil.
Kirchengemeinden wären gut beraten, wenn sie in der Frage, ob eine »Judensau«-Skulptur entfernt werden soll, nicht voreilig handeln, sondern sorgfältig darüber nachdenken, was zu tun ist. Zustimmen kann man Johannes Block, dem Pfarrer der Stadtkirche Wittenberg, der sich folgendermaßen erklärt hat: »Geschichte zeigen, Geschichte nicht verbergen, sondern mit dem Negativen so umgehen, dass etwas Positives daraus wird.«
Tradition So weit, so gut. Wir kommen hier aber zum eigentlichen Problem, das in diesem Zusammenhang beachtet werden sollte. Der Antijudaismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen ist, wie wir wissen, integraler Bestandteil der christlichen Kultur in Europa. Die Entfernung der »Judensau«-Skulpturen und -Abbildungen aus den Kirchen, wenn man sich dazu entschließen sollte, hätte zur Folge, dass man sich damit abfinden müsste, dass leere Flecken blieben. Hinzu käme, was manche Theologen durchaus einzugestehen bereit sind, dass das Entfernen solcher Skulpturen und Bildmotive ein verändernder Eingriff in die christliche Traditions- und Überlieferungsgeschichte wäre – wohlgemerkt ein Eingriff mit unabsehbaren Folgen.
Sind judenfeindliche Passagen ebenfalls aus dem Neuen Testament zu streichen?
Wer heute das Entfernen von »Judensau«-Skulpturen und entsprechender Gemälde aus den Kirchen fordert, der sollte sich zwangsläufig auch noch eine ganz andere, weitaus diffizilere Frage stellen, nämlich, ob es nicht erforderlich ist, neben dem Entfernen dieser anstößigen Überbleibsel aus dem frühen Mittelalter ebenfalls die judenfeindlichen Passagen aus dem Neuen Testament zu streichen. Würde man sich zu einem solchen Schritt entschließen, würde das einem bekennenden Christen allerdings schwerfallen. Denn er wird sich dann fragen, ob es sich bei dem zu schaffenden Konstrukt noch um das ursprüngliche Neue Testament handelt.
Verantwortung Was also ist zu tun? Was kann getan werden? Im Fall der Kirchen (etwa in Brandenburg an der Havel, im dortigen Dom St. Peter und Paul, im Erfurter Dom, im Kölner Dom, in der Marienkirche in Pirna, aber auch im Magdeburger Dom und im Xantener Dom) sollte man »Judensau«-Skulpturen und -Abbildungen weder verhüllen noch entfernen, allenfalls in Ausnahmefällen. Denn täte man dies, hätte das, wie gesagt, zur Folge, dass der im Christentum angelegte Antijudaismus unsichtbar gemacht und die Kirchen aus ihrer historischen Verantwortung entlassen würden.
Sinnvoller scheint es zu sein, was in zahlreichen Fällen ja auch geschieht, aufzuklären und Schrifttafeln mit entsprechenden Erklärungen in den Kirchen anzubringen. Das ist mühsam, auch zugegebenermaßen nicht ganz einfach, aber wer vor einer solchen »Judensau«-Skulptur oder -Abbildung steht und über deren Bedeutung nachdenkt, dem sollte erklärend der Sachverhalt vermittelt werden, was ihm da vor Augen geführt wird.
Die Debatte, um die es im Fall der »Judensau«-Skulpturen geht, lässt sich noch weiterführen. Kann man aus deutschen Gedichten, Märchen und Fabeln die deutlich antijüdischen Stellen entfernen? Was geschieht, das muss man sich dann allerdings ernsthaft fragen, wenn man aus der Bildergeschichte des humoristischen Dichters und Zeichners Wilhelm Busch bei einer eventuellen Neuauflage die antijüdischen Passagen wie etwa die Eingangssequenz bei der Frommen Helene streicht: »Und der Jud mit krummer Ferse,/krummer Nas’ und krummer Hos’/Schlängelt sich zur hohen Börse/Tiefverderbt und seelenlos«?
Noch ein Stück komplizierter wird es, wenn man sich mit der Frage beschäftigt, wie mit den antijüdischen Passagen im Neuen Testament umgegangen werden soll. Es finden sich in diesem bekanntlich zahlreiche Stellen (nicht nur im Lukas-evangelium, dem Johannesevangelium, der Apostelgeschichte und dem Römerbrief), die alle klassische Vorurteilsbilder und Stereotypen enthalten. Sie reichen vom Christusmördervorwurf über das Bild des Juden als Satan, als Heilsverhinderer, bis hin zur Beschuldigung der Juden als »Schlangen- und Natternbrut«, denen am Ende der Tage »Strafgericht der Hölle« droht.
Das sind alles Vorurteilsbilder und Annahmen, die das Denken der Menschen geprägt haben. Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch 2000 Jahre Christentums- und Kirchengeschichte. Sie bedürfen, wie die »Judensau«-Skulpturen in den Kirchen und die antijüdischen Passagen in der Literatur, in vielerlei Hinsicht ebenfalls des Nach- und Überdenkens, wie mit ihnen umzugehen ist. Die Judenpogrome des Mittelalters und die Verbrennungsöfen von Auschwitz sind schließlich Folgen dieser tradierten, in Vernichtungs- und Ausrottungsfantasien geronnenen Vorwürfe und Unterstellungen.
LITERATUR Wie auch immer: Nicht nur die Schmähskulpturen und -abbildungen, sondern auch die Literatur sowie das Neue Testament mit seinen antijüdischen Passagen sind Teil eines vergifteten Erbes, das uns zwingt, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Aber auch, wenn das getan wird, bleibt die Frage, wie man es künftig mit diesem christlich-kulturellen Erbe halten soll. Etwa ganz auf das Neue Testament zu verzichten, das wird für einen bekennenden Christen kaum möglich sein, denn das NT ist einer der zentralen Grundpfeiler der christlichen Lehre und des christlichen Glaubens.
Die Juden geht dieser Sachverhalt im Prinzip eigentlich nichts an.
Die Juden geht dieser ganze Sachverhalt im Prinzip eigentlich nichts an, allenfalls nur am Rande. Sie können, ja, sie sollten sich aus dieser Debatte heraushalten. Gleichgültig ob es nun darum geht, Wilhelm Busch umzuschreiben oder die judenfeindlichen Passagen im Neuen Testament zu kommentieren oder ersatzlos zu streichen. Lassen sich die Juden auf diese Debatte ein, so ist zu befürchten, dass das dann leicht Missverständnisse hervorruft. Es ist, wenn sie das tun, dann nicht mehr weit zu der Unterstellung, es seien doch die Juden, die eigentlich an dem ganzen Schlamassel Schuld haben – und dass sie es seien, die den Christen vorschreiben wollen, was sie zu glauben und was sie zu denken haben.
Sich mit dieser Problematik zu befassen, sollte in erster Linie Aufgabe der christlichen Bevölkerung sein. Es sind die Kirchengemeinden sowie die christlichen Theologen, die sich mit diesen Fragen beschäftigen sollten. Sie sind diejenigen, die gefordert sind. So sie gewillt sind, das zu tun, werden sie erkennen beziehungsweise wird ihnen bewusst, dass sie nur dann halbwegs zufriedenstellende Antworten erhalten werden, wenn sie den Mut aufbringen, die Fragen an sich und ihren Glauben so radikal wie nur möglich zu stellen. Nur dann, wenn sich eine solche Verhaltensweise durchsetzt, werden sich im Dialog zwischen Juden und Christen neue Perspektiven eröffnen.
Der Autor ist Vorstandsvorsitzender der Moses Mendelssohn Stiftung.