Am 21. Juli, dem kommenden Dienstag, beginnt vor dem Ober-
landesgericht Naumburg der Prozess gegen Stephan B. Die Verhandlung gegen den mutmaßlichen Attentäter von Halle findet aus Platzgründen im Magdeburger Landgericht statt.
Die Anklage lautet auf zweifachen Mord und 68-fachen Mordversuch. Für die Bundesanwaltschaft steht das Motiv fest: Antisemitismus, Rassismus und fremdenfeindliche Gesinnung.
Jom Kippur 52 Gläubige hatten sich am 9. Oktober vergangenen Jahres zum Gebet an Jom Kippur in der Synagoge in Halle versammelt. Gemeindemitglieder und Besucher. Der damals 27-jährige Stephan B. war mit dem Ziel gekommen, möglichst viele Menschen zu ermorden.
Mit selbstgebauten Schusswaffen versuchte er, in die Synagoge einzudringen. Zwei Schrotflinten und zwei Maschinenpistolen hatte er nach Anleitungen aus dem Internet zusammengesetzt. Schon vor dem Anschlag hatte er begonnen, seine Tat im Internet zu streamen. Möglichst viele Menschen sollten ihm beim Morden zuschauen.
Er scheiterte bei dem Versuch, in die Synagoge einzudringen, an der Tür, obwohl er sie mit Handgranaten und Molotowcocktails attackierte. In der Synagoge bereitete sich zu diesem Zeitpunkt eine Gruppe darauf vor, den Angriff abzuwehren. Die Polizei war da schon von Gemeindemitgliedern verständigt worden.
HANDGRANATE Als dem mutmaßlichen Attentäter klar wurde, dass er nicht in die Synagoge eindringen konnte, änderte er seinen Plan. Er erschoss vor der Synagoge eine 40-jährige Passantin, die zufällig vorbeikam. Dann stieg er in sein Auto und fuhr zu einem nahen türkischen Imbiss. Das Grillrestaurant griff er mit einer Handgranate an, verfehlte aber die Tür.
Als er das Lokal betrat, flüchtete ein 20-jährigen Gast, sein späteres Opfer, hinter einen Kühlschrank. Drei andere Menschen konnten sich in Sicherheit bringen. Stephan B. hielt den 20-Jährigen, wie es in der Anklageschrift heißt, »fälschlicherweise für einen Angehörigen muslimischen Glaubens«, schoss ihn an, verließ das Lokal, kehrte zurück und vollendete seinen Mord.
In Halle gelang es der Polizei weder, den mutmaßlichen Attentäter zu stellen, noch seine Flucht aus der Stadt zu verhindern. Für den nur wenige Hundert Meter langen Weg von der Polizeiwache bis zur Synagoge brauchten die Beamten sieben Minuten. Stephan B. konnte der Polizei zunächst entkommen, erst nachdem er einen Autounfall verursacht hatte und zu Fuß weiter floh, gelang es den Beamten, ihn zu stellen. Nach der Tat legte er ein Geständnis ab und ist seitdem in Haft.
FESTUNG Zum Prozess werden nun 40 Nebenkläger erwartet. Einer von ihnen ist Max Privorozki, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Halle. Er erlebte den Angriff in der Synagoge: »Ich möchte verstehen, wie der Attentäter dazu kam, diesen Anschlag zu verüben. Für mich ist die wichtigste Frage: Wie wurde er zu einem Mörder?«
Vor dem Anschlag sei das Verhältnis der Gemeinde zum Land Sachsen-Anhalt und der Stadt Halle gut gewesen. Man habe manchmal Meinungsverschiedenheiten gehabt, wie das nun einmal so sei, sagt Privorozki unserer Zeitung. Da sei es zum Beispiel um die Frage des jüdischen Religionsunterrichts gegangen, der in vielen anderen Bundesländern angeboten wird. »So etwas gibt es in Sachsen-Anhalt nicht«, bedauert Privorozki.
Die Gemeinde habe seit Jahren in regelmäßigem Kontakt mit den für die Sicherheit zuständigen Behörden gestanden. Dabei sei auch die Besorgnis einiger Gemeindemitglieder im Hinblick auf ihre persönliche Sicherheit angesprochen worden. Der Anschlag auf die Synagoge und die beiden Morde hätten gezeigt, dass die Beurteilung der Sicherheitslage falsch war. Heute, sagt Privorozki, sei die Synagoge sicherer, aber man fühle sich wie in einer Festung.
Fluchtversuch Das Leben in Halle sei für Juden nicht einfach, so Privorozki weiter. Regelmäßig würden Neonazis demonstrieren. Darüber hinaus hätten zwei Vorfälle für weitere Verunsicherung gesorgt. Der mutmaßliche Synagogen-Attentäter sollte nach Ankündigung des Landes der bestbewachte Gefangene Sachsen-Anhalts sein.
Ein Versprechen, dass das Land nicht hielt: Ende Mai konnte B. über einen Zaun eines Freistundenhofes innerhalb der JVA Halle klettern und sich etwa fünf Minuten lang unbeaufsichtigt im Innenbereich der Anstalt bewegen, bevor er wieder in Gewahrsam genommen wurde. Laut Sachsen-Anhalts Justizministerin Anne-Marie Keding (CDU) hatte die Gefängnisleitung eigenständig die Haftbedingungen für B. gelockert. Von seinem Fluchtversuch erfuhr die Leitung der Haftanstalt dann erst am folgenden Dienstag.
»Ich möchte verstehen, wie der Attentäter dazu kam, diesen Anschlag zu verüben.«
Max Privorozki
Inzwischen hat die Justizministerin Fehler eingeräumt. Aufklärung über die Panne wurde zugesichert. Man werde »hart daran arbeiten, das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen«, sagte Keding Ende Juni bei einer Aktuellen Debatte im Magdeburger Landtag. Dazu gehöre auch die Untersuchung durch eine externe Expertenkommission.
Die Linke-Fraktion, die die Aktuelle Debatte beantragt hatte, kritisierte die Informationspolitik des Ministeriums und vermisste eine öffentliche Entschuldigung des Ministerpräsidenten Reiner Haseloff (CDU). Der Ministerpräsident hätte sich zu Wort melden müssen, sagte die rechtspolitische Sprecherin der Linken, Eva von Angern. Der Fluchtversuch stehe am Ende einer Kette von Fehlverhalten, Versäumnissen und Desinteresse, für die das Ministerium verantwortlich sei.
HAKENKREUZ Dazu gehört auch der Umgang der Behörden mit einem weiteren Vorfall: Anfang Juni war vor dem Gemeindehaus ein Hakenkreuz aus Papier ausgelegt worden. Bekannt wurde das nur aufgrund der Kameraaufzeichnungen der Gemeinde.
Ein Polizeibeamter hatte das Hakenkreuz eigenmächtig entfernt und angegeben, nichts gefunden zu haben. Er wurde mittlerweile versetzt. »So etwas macht mich sprachlos«, sagt Privorozki. »Auf Polizei und Justiz müssen wir uns verlassen können. Das ist schwer zu ertragen.«
Igor Matviyets ist Sozialdemokrat und Gemeindemitglied. Am Tag des Anschlags war er nicht in der Synagoge, aber er wohnt nicht weit entfernt von der JVA Halle, dem »Roten Ochsen«. »Es ist Wahnsinn, dass B. nur noch von einem Azubi bewacht wurde – entgegen jeglicher Vorschrift. Es gibt Angehörige der Opfer seiner Tat, die einen Anspruch auf ein ordentliches Verfahren haben. Es geht um das Recht dieser Menschen.
Die Verantwortlichen für das Desaster haben dieses Grundrecht gefährdet: Er hätte ausbrechen können, er hätte sich umbringen können, er stand nicht mehr unter der Kontrolle des Staates.«
Matviyets hat die Anklageschrift gelesen. »Der antisemitische Charakter der Tat wird da sehr deutlich beschrieben. Ich hoffe sehr, das auch darüber diskutiert wird, wo B. unterwegs war – online und offline.« Der mutmaßliche Attentäter habe einen Radikalisierungsprozess durchlaufen, aber es habe niemanden gegeben, der ihn gestoppt hätte, meint Matviyets. »Wo hätten der Staat, die Zivilgesellschaft, das familiäre Umfeld Möglichkeiten gehabt, mit ihm in Kontakt zu kommen? Es gab offenbar niemanden, der gesagt hat: ›Halt, stopp. Das ist falsch, das ist menschenverachtend.‹«
AUFARBEITUNG Eine Aufarbeitung des Anschlags und der Morde habe es von Seiten der Stadt nicht gegeben, kritisiert Matviyets. Das Bündnis »Halle gegen rechts« veranstaltete einen Trauerzug, an dem auch die eher rechte Ultraszene des FC Halle, dem das 20-jährige Opfer nahestand, teilnahm.
»Es gibt keine rechten Einzeltäter.«
Samuel Salzborn
Sie hätten gemeinsam mit Linken der beiden Toten und der Opfer des Anschlags auf die Synagoge gedacht. Es sei eine gute Veranstaltung gewesen, findet Matviyets. »Aber es gab keine offizielle Veranstaltung der Stadt, der Anschlag war nicht einmal ein Thema im Rat.« Der Oberbürgermeister der Stadt, Bernd Wiegand, ein ehemaliger Sozialdemokrat, sei parteilos und somit durch die Fraktionen im Rat nur schwer ansprechbar.
vernetzungen Halle, das ist nicht irgendeine Stadt, Halle ist eine Hochburg der Nazi-Szene. Doch für Samuel Salzborn, Antisemitismusexperte und Professor am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität in Gießen, ist eine antisemitische Grundstimmung für die Radikalisierung eines Täters wie B. nicht nötig. Jeder antisemitische Terrorakt könne auch ohne eine entsprechende antisemitische Stimmung in der Gesellschaft stattfinden, sagt Salzborn, weil Antisemiten ihren Antisemitismus jenseits der Realität glauben und danach handeln.
»Die eigentliche antisemitische Radikalisierung vom Gedanken zur Tat erfolgt aber in einem gesellschaftlichen Kontext, bei dem sich Antisemiten durch eine antisemitische Stimmung immer weiter bestärkt fühlen. Die antisemitische Hetze, besonders in und über soziale Medien, verstärkt antisemitische Weltbilder und führt zugleich zu sozialer Stabilisierung der Antisemiten.«
Stephan B. ist für Salzborn kein Einzeltäter. »Es gibt keine rechten Einzeltäter«, sagt er. Auf strafrechtlicher Ebene müssten konkrete Verantwortlichkeiten geklärt werden, aber im politischen Verständnis agiere niemand als Einzeltäter.
»Es gibt immer Sozialkontakte, die bestärken und unterstützen, Pläne, die mit anderen diskutiert werden, Hilfe bei der Beschaffung von Geld oder Waffen – oder auch nur von Dingen des alltäglichen Gebrauchs --, Austausch über politische und alltägliche Fragen – Vernetzungen im realen und virtuellen Leben in vielfältiger Weise.«