Wie viele Divisionen hat der Papst?», soll der sowjetische Diktator Josef Stalin einmal spöttisch gefragt haben, als er von seiner Umgebung auf die Macht der katholischen Kirche hingewiesen wurde. Er konnte nicht wissen, dass Jahrzehnte später der polnische Papst Johannes Paul II. zu den Schlüsselfiguren für den friedlichen Wandel in Osteuropa gehören würde. Auch das Rote Kreuz stützt sich bei seinem humanitären Auftrag nicht auf Divisionen, sondern wirkt im Stillen, stets auf strikte Neutralität bedacht – eine der Grundvoraussetzungen für die Arbeit mit vielen unterschiedlichen Mächten.
In den 150 Jahren seines Bestehens ist das Rote Kreuz gleichwohl zu manchen Zeiten an seine Grenzen gestoßen. So konnte es im Zweiten Weltkrieg nicht verhindern, dass das nationalsozialistische Deutschland sechs Millionen europäische Juden ermordete. Hinzu kamen noch wenigstens zwei Millionen sowjetische Soldaten, die in deutscher Kriegsgefangenschaft ihr Leben verloren, und Hunderttausende Menschen, die aus rassischen, religiösen oder politischen Motiven zu Opfern wurden.
passiv «Hätte der Holocaust verhindert werden können?», fragte deshalb der Historiker Jean-Claude Favez, der in den 80er-Jahren vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) beauftragt wurde, die Rolle des IKRK im Zweiten Weltkrieg zu untersuchen. Das zentrale Ergebnis des Geschichtsforschers: Es war nicht so, dass das IKRK nicht versucht hätte, etwas für die europäischen Juden zu tun, aber ihm fehlte die Möglichkeit, sich gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland durchzusetzen.
Das größte Druckmittel, die Weltöffentlichkeit schonungslos über den Holocaust zu informieren – über eine ausreichende Datenbasis hätte das Rote Kreuz, ebenso wie zahlreiche andere Organisationen, verfügt –, blieb leider ungenutzt. Dafür gab es mehrere Gründe: Zum einen schien anfangs der Gedanke, dass Deutschland ein solches monströses Verbrechen verüben könnte, zu ungeheuerlich, zum anderen fehlte es dem IKRK an einer rechtlichen Grundlage, sich Gehör zu verschaffen. Das IKRK als Organisation im Krieg geboren und für den Krieg geschaffen, war in seinen damaligen Wirkungsmöglichkeiten ausschließlich auf Kombattanten und Kriegsgefangene begrenzt.
Zivilinternierte in besetzten Gebieten und Insassen von Konzentrationslagern, die von den Deutschen häufig als gewöhnliche Kriminelle tituliert wurden, um sie von vornherein anderer Zuständigkeit zu entziehen, gehörten nicht dazu. Hinzu kam der geografische Sitz des IKRK in der Schweiz, das ringsum von den Achsenmächten eingeschlossen war und dessen Regierung bemüht war, Deutschland nicht zu provozieren.
Ganz ohnmächtig wäre das Rote Kreuz aber nicht gewesen: NS-Deutschland hatte allen Grund, sich mit ihm gut zu stellen, denn immer mehr deutsche Soldaten gerieten mit zunehmendem Kriegsverlauf in alliierte Hand. Auf jeden Fall wurde seitens des Internationalen Roten Kreuzes hier eine Chance vertan, zumindest Sand ins Getriebe der Tötungsmaschinerie zu bringen.
gleichgeschaltet Nicht nur passiv wie das IKRK war sein nationaler Ansprechpartner im Reich, das Deutsche Rote Kreuz (DRK), bis 1939 Partner in allen Gremien der Organisation. Diese als Träger der Genfer Konventionen für Hitlers Ausrüstungspläne wichtige Organisation war bereits 1933 komplett gleichgeschaltet worden. Ab 1937 stand mit Ernst Robert Grawitz als geschäftsführender Präsident sogar der oberste Mediziner der SS an der Spitze des Verbands, der nach 1945 von den Alliierten als «verbrecherische Organisation» wie NSDAP und SS eingestuft wurde.
Juden gab es zu dieser Zeit bereits lange nicht mehr im DRK. Das Rote Kreuz in Deutschland hatte seine jüdischen Mitglieder schon 1933 ausgeschlossen, indem es das nationalsozialistische «Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums» freiwillig auf sich selbst anwandte. Es folgte mit diesem Schritt zwar allen anderen Vereinen und Verbänden. Aber der Schritt des DRK wog dennoch schwerer, weil er in vollkommenem Widerspruch zu seinen selbst gesetzten Idealen von Neutralität und Unparteilichkeit stand.
Diese diskriminierende Behandlung der jüdischen Mitglieder war indes nicht unumstritten. Wenige Fälle sind überliefert, in denen sogar offene Opposition geäußert wurde, so wie beim Hessischen Landesverein: «Die grundsätzliche Ausschaltung aller Personen jüdischer Konfession und Abstammung von der Mitarbeit im Roten Kreuz ist mit den Grundsätzen des DRK nicht vereinbar und entspricht nicht dem christlichen Geist und dem Symbol des Roten Kreuzes.»
Dass die Organisation ihre Rechtsform als «eingetragener Verein» behalten durfte, ist in der Vergangenheit oft fälschlicherweise als Ausdruck von Widerstand des DRK gegenüber dem NS-Staat gedeutet worden. In Wirklichkeit handelte es sich lediglich um einen taktischen Schritt Hitlers, dem es geschickter erschien, die deutsche Trägerorganisation der Genfer Konventionen formal parteipolitisch neutral zu halten.
verweigerungshaltung Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass das DRK dem IKRK bei dessen Bemühungen für die Verfolgten des NS-Regimes keine Unterstützung bot. Schon einer Demarche des IKRK zugunsten der politischen und rassischen Gefangenen vom 28. Dezember 1938 – also vor Kriegsbeginn – verweigerte sich das DRK komplett. Ein Jahr später, als sich Polen bereits unter deutscher Besatzung befand, erklärte das DRK dem Komitee in Genf, dass das Rote Kreuz prinzipiell keine Pakete in Konzentrationslager schicken dürfe.
Am 20. August 1941 teilte das DRK dem IKRK mit, es könne Suchanträge für die Konzentrationslager schon allein aus Kapazitätsgründen nicht bearbeiten – ein sicheres Todesurteil für Millionen Menschen. Und drei Monate nach der Wannsee-Konferenz ließ das DRK Genf wissen, es sehe sich außerstande, Auskünfte über «nichtarische» Häftlinge zu erteilen.
Diese paradox anmutende Praxis, dass nationale Rotkreuz-Gesellschaften gegen Empfehlungen des IKRK handeln können, liegt in der Grundstruktur des Internationalen Roten Kreuzes begründet: Dessen internationale Gremien sind Koordinierungsstellen für die Arbeit der Organisation rund um den Globus, keine vorgesetzten Dienststellen, deren Anordnungen die nationalen Gesellschaften zu gehorchen hätten. Kaum jemals hat sich dies so verhängnisvoll ausgewirkt wie im Zweiten Weltkrieg.
theresienstadt Zwar war es dem IKRK vor dem Krieg immer wieder gelungen, Besuche einzelner Delegierter in Konzentrationslagern durchzusetzen, so 1935 in Lichtenburg, Esterwegen und Dachau durch seinen Entsandten Carl Jacob Burckhardt. Zu den Todeslagern in Osteuropa drang das IKRK jedoch nie vor, sieht man von der peinlichen Vorführung der Rotkreuz-Abgesandten im «Vorzeige-KZ» Theresienstadt im Juni 1944 einmal ab.
Weder Burckhardts persönliche Interventionen noch direkte Schreiben des IKRK an DRK-Chef Grawitz konnten die Mordmaschinerie stoppen, die inzwischen in allen von deutschen Truppen besetzten Gebieten sowie in den mit dem Reich verbündeten Staaten arbeitete. Einen viel zu späten Umschwung brachten erst die zweite Hälfte 1944 und das Jahr 1945, als die Nazitäter begannen, die Strafe für ihre Untaten zu fürchten und deshalb bereit waren, einzelne Gruppen von Juden, später ganze Konzentrationslager, in die Obhut des IKRK zu geben.
Rotes Kreuz und internationale Völkergemeinschaft haben wenigstens nicht lange gebraucht, um Konsequenzen aus diesen Versäumnissen zu ziehen. Mit den beiden Zusatzprotokollen zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler und nicht internationaler bewaffneter Konflikte wurde ein völkerrechtliches Regelwerk geschaffen, das die Unversehrtheit von Zivilbevölkerung und Zivilinternierten garantieren soll. Ob es funktioniert, hängt allerdings wie eh und je von der Durchsetzungsfähigkeit ab, auch wenn weit mehr als 160 Staaten mittlerweile die Protokolle unterzeichnet haben. Neue Völkermorde wie in Kambodscha oder Ruanda haben diese Abkommen nicht verhindern können.
Der Autor ist Historiker und Verfasser der Studie «Gleichgeschaltet. Rotkreuzgemeinschaften im NS-Staat» (Böhlau, Köln 2009, 348 S., 44,90 €)