In den Konzentrations- und Vernichtungslagern wurde das Töten perfektioniert. Mit Gaskammer, Giftspritzen und Genickschussanlage wurde im KZ Stutthof in der Nähe von Danzig systematisch gemordet. 75 Jahre nach der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee am 9. Mai 1945 sind die allermeisten Täter, die für Zehntausende Tote verantwortlich waren, schon gestorben. Die wenigsten wurden vor Gericht gestellt und verurteilt. Viel zu spät versucht die deutsche Justiz heute, die letzten mutmaßlichen Mordhelfer aus Stutthof und den anderen Mordfabriken noch zur Rechenschaft zu ziehen.
So muss sich seit Oktober vergangenen Jahres Bruno Dey vor dem Landgericht in Hamburg verantworten, weil er als SS-Wachmann im KZ Stutthof Beihilfe zum Mord an 5230 Menschen geleistet haben soll. Trotz der Corona-Pandemie führt die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring den Prozess weiter.
Unter strengen Infektionsschutz-Auflagen wird nun gegen den Mann verhandelt, der mit knapp 18 Jahren zur SS-Wachmannschaft des KZs kam. Das Gericht hätte den Prozess nach einem neuen Gesetz wegen des grassierenden Coronavirus auch für gut drei Monate aussetzen können.
STRAFKAMMER Für den Nebenklagevertreter Ernst von Münchhausen ist die Entscheidung, trotz Corona weiterzuverhandeln, richtig. Daran könne man die Ernsthaftigkeit des Bemühens des Gerichts erkennen. »Viele andere Richter hätten sicherlich die Gelegenheit genutzt, um das Verfahren mit dem Argument Corona in die Länge zu ziehen – in der Hoffnung, dass die Zeit dieses Thema erledigt«, sagt von Münchhausen, der einen Schoa-Überlebenden vertritt.
Der Prozess nähert sich dem Ende. Mehrere Überlebende des Lagers beschrieben die Gräueltaten im KZ. Christoph Rückel, der einige Überlebende vertritt, hatte beantragt, dass das Gericht selbst zum ehemaligen KZ nach Polen reisen soll. Die Zeugen, Skizzen und Fotos könnten nicht »den Blick auf die grausame Wirklichkeit des früheren Konzentrationslagers ersetzen oder anschaulich vermitteln«, schrieb Rückel als Begründung. Daher müsste das Gericht selbst zur Gedenkstätte auf dem ehemaligen KZ-Gelände reisen.
Dies lehnte die Strafkammer im April ab – so eindrücklich die Schilderungen der Überlebenden des KZs Stutthof im Hamburger Prozess waren und so wichtig die Inaugenscheinnahme vor Ort für einige Nebenkläger gewesen wäre.
GUTACHTEN Entscheidend für die juristische Beurteilung der Schuld Deys wird vor allem eine Frage sein: Hätte sich der Wachmann aus dem KZ versetzen lassen können? Diese Frage soll der Gutachter Stefan Hördler beantworten, der nun im Mai im Prozess aussagt. Der Historiker gilt als einer der versiertesten Kenner des KZ-Systems und war bereits in früheren Prozessen Sachverständiger. In seinem schriftlichen Gutachten, das der Jüdischen Allgemeinen vorliegt, kommt Hördler zu dem Schluss, dass Dey von den Mordtaten im KZ gewusst haben muss.
Trotz seines Wissens über die Zustände im Lager habe Dey niemals eine Versetzung beantragt. Dabei hätte er sich wohl an die Front versetzen lassen können, wie es andere Wachleute mit seinem Tauglichkeitsgrad auch getan hatten. Laut dem Gutachten war es Dey zweifellos bewusst, dass er Teil der Vernichtungsmaschinerie war.
Derweil steht der Prozess gegen einen anderen Wachmann aus Stutthof noch auf der Kippe.
Dey bestreitet das. Er habe viele Tote gesehen, gab er gegenüber den Ermittlern an. Auch wusste er, dass es eine Gaskammer gab, und es sei im Kameradenkreis »mal von Judenvernichtung« gesprochen worden, wie er in einer Vernehmung sagte. Aber sich selbst sieht er nicht als Teil des Mordapparats. Als einfacher Wachmann hätte er doch nichts dagegen tun können. Wie seine Tätigkeit als Wachmann, der mit einem Gewehr auf den Türmen stand, im juristischen Sinne zu werten ist, muss das Gericht demnächst entscheiden.
Grundsätzlich sehen die Nebenklagevertreter Rückel und von Münchhausen die Anklagevorwürfe in dem bisherigen Prozess als bestätigt. Unbestritten sei, dass Dey als Wachmann tätig war, Gaskammer und Krematorium kannte und eine Hinrichtung selbst beobachtet hat, sagt Rückel.
In der Strafzumessung werde Deys »jugendliches Alter und die damit fehlende charakterliche Reife zu berücksichtigen sein«, meint von Münchhausen. Anders als in früheren Verfahren gegen KZ-Wachleute ist Dey auch nicht freiwillig Mitglied der SS geworden, sondern wurde von der Wehrmacht in die SS überstellt, gibt der Rechtsanwalt außerdem zu bedenken. Im Juni könnte in Hamburg das Urteil fallen.
SEKRETÄRIN Derweil steht der Prozess gegen einen anderen Wachmann aus Stutthof noch auf der Kippe. Im Verfahren gegen Harry S. aus Wuppertal hat das dortige Landgericht – nachdem 2017 Anklage erhoben worden war – bis heute nicht über die Eröffnung entschieden. Anwalt Rückel rechnet nicht mehr mit weiteren Prozessen gegen mutmaßliche NS-Täter. Dabei wäre ein Verfahren »historisch besonders interessant«, meint Rückel. In Schleswig-Holstein wird noch gegen die Sekretärin des KZ-Kommandanten aus Stutthof ermittelt.
Die Frage, ob sich auch eine Schreibkraft juristisch der Beihilfe zum Mord im System eines Konzentrations- und Vernichtungslagers schuldig gemacht hat, ist derzeit noch offen. Ob ein Gericht darüber entscheiden wird, ist ungewiss.