Als Regisseurin bin ich viel unterwegs. Mal eine Oper hier, dann eine Operette dort. Ich bin auf Montage, und die Orte mit ihren Opernhäusern und Einkaufspassagen verschwimmen und werden zu einer einheitlichen großen Fremde.
Abends nach Probenschluss sehe ich mir in desolaten Apartments TV-Serien an, nach denen ich noch weniger schlafen kann. In Homeland sucht die Hauptfigur Carrie hysterisch einen Terroristen, der ganz Amerika in die Luft sprengen will, die dänische Premierministerin Brigitte Nyborg in Borgen hat Krebs und besichtigt dennoch den Kriegsschauplatz in Afghanistan. Morgens sehe ich aus, als hätte ich, selbst schwer krank, Mörder oder noch Schlimmeres gejagt. So kann es nicht weitergehen.
Provinz Ein anderes Medium, ein anderes Genre muss dringend her, will ich nicht gänzlich aufgerieben auf den Proben versagen. Ich suche nach etwas Beruhigendem, etwas, das mich nicht aufzehrt, sondern feinfühlig begleitet in der Einsamkeit der Provinz. Ich werde fündig – wer hätte das gedacht – bei Thomas Mann und lese mich tapfer Abend für Abend durch die Buddenbrooks, den Zauberberg. Wortreich, ironisch, nicht zu schwer, aber auch nicht zu leichtgewichtig, sind sie ein perfekter Serienersatz, und ich schlafe herrlich trotz der durchaus stattfindenden Dramen: Antonie, genannt Tony, heiratet den schrecklichen Grünlich, und Hans Castorp zieht in den Krieg.
»Haben wir nicht auch einen Thomas Mann?«, frage ich meinen Mann kurz vor Probenbeginn, dieser antwortet mir: »Ihr habt viele«, und legt mir Joseph Roth hin. Und so beginnt meine Reise durch die k.u.k.-Monarchie. Sie fängt mit einem Marsch in Böhmen an und endet in Wien, mit dem Tod des Kaisers. Nach dem Radetzkymarsch bin ich in der Kapuzinergruft, dann im Hotel Savoy, und die kleinen jüdischen Händler, die braven Soldaten, die unglücklichen Ehefrauen, die trinkenden Söhne bevölkern meine Träume.
Nicht nur das, ich habe keine Mühe mehr mit der Fledermaus in Linz, im Café Traxlmayr sitzen sie alle, die Figuren aus den Romanen Roths, ja, und ich verstehe endlich auch die Ehe zwischen Rosalinde und Eisenstein, denn Joseph Roth hat mir eine Gebrauchsanleitung für die Österreicher mitgegeben.
Proben Ich bin süchtig nach den »alten Schinken«. Erledige die Proben schnell, um weiterlesen zu können. Wenn auch die Geschichten vor über 80 Jahren spielen, sind ihre Protagonisten modern. Obwohl es keinen Kaiser mehr gibt – Söhne, die ihrem Vater gefallen möchten, kenne ich zuhauf. Und nicht zu wissen, wohin man gehört, wer oder was man sein möchte, ist Lieblingsthema zwischen mir und meinen Söhnen. Auf dem Fahrrad zur Probe denke ich darüber nach, was Joseph Roth ausmacht. Er ist Chronist seiner Zeit. Ein genauer, liebevoller Beobachter seiner Mitmenschen. Er beschreibt, urteilt nicht. Er hat Humor. Joseph Trotta, mein Held von Solferino!
Ich hatte Kafka gelesen, Tucholsky und Isaac B. Singer, Feuchtwanger. Vor Joseph Roth hatte ich einen unerklärlichen Respekt und vor seinem Hiob geradezu biblische Angst. Zu den Endproben von Tosca krame ich ihn heraus. Was soll mir schon passieren? In den zwei Stunden von Puccinis Oper sterben alle drei Protagonisten!
Mit einer Überdosis Taschentücher mache ich mich an die Lektüre. Als ich nach zwei Nächten fertig bin, hat die zerbombte Kulisse der Stadt, die Fußgängerzone in Kassel, ihren Schrecken verloren, leuchtet gleichsam von innen, denn Mendels behinderter Sohn ist Opernsänger geworden. »Menuchims Lied« erfüllt die Herzen aller, so wie Toscas »Vissi d’arte« das Premierenpublikum berauscht.
Nöte Wenn die »Alten« das können, frage ich mich: Können das die »Jungen« auch? Haben unsere »jungen« jüdischen Autoren ein Herz für die Nöte des kleinen Mannes? Sind sie Chronisten ihrer Zeit, oder halten sie die Nachwehen des Holocaust derart im Griff, dass nur das – und ausschließlich das – Thema ist und bleibt? Sind sie mit ihrer Beschreibung heutigen jüdischen Lebens in der deutsch-jüdischen Erklärfalle gefangen, oder haben sie sich emanzipiert? Also lese ich Menasse, Biller, Schindel und Rabinovici. Und Jüngere wie Gorelik. Und Polak ...
Erfahre, dass sich in Wien nicht so arg viel getan hat, dafür umso mehr in Berlin. Dass man selbstbewusst und ironisch sich und seine deutsche Umgebung sezieren kann, ohne gleich ein Nestbeschmutzer zu sein. Die Jüngeren sind auf den Spuren ihrer Großeltern, zerbrechen sich den Kopf, ob Beschneidung immer noch angebracht ist. Und ja, sie sind Chronisten ihrer Zeit, sie sind poetisch, böse und durchaus witzig. Und sie definieren sich längst nicht mehr ausschließlich über die Schoa. Vielleicht sind sie nicht ganz zu Hause dort, wo sie sind, aber wer ist das schon?
Ich jedenfalls kann getrost weitere Engagements annehmen, denn, wenn ich auch auf nichts Neues von Joseph Roth hoffen darf, diese »Jungen« sind ungeheuer produktiv. Ich muss mich vor keiner zerbombten deutschen Stadt fürchten, in der ich in Zukunft inszenieren werde, denn ich habe genug Lesestoff, um sie alle zu verkraften.
Die Autorin ist Schauspielerin und Regisseurin. In Kürze erscheint ihr Buch »Doitscha. Eine jüdische Mutter packt aus«.