Bevor sie überhaupt verstanden wurde, fiel die neue Qualität der Verbrechen des 7. Oktober schon dem Vergessen anheim. Einer der ersten Kommentare zu einem Instagram-Post des Hauses der Wannsee-Konferenz zur Solidarität mit Israel verschob bereits den Fokus: »Solidarität mit Palästina gibt es nicht?« Kurz danach folgte der Vorwurf: »Etwas einseitig und ignorant, oder?« Die Kommentatorin erklärte auf Nachfrage unumwunden: »Ich beziehe mich auf die Tatsache, dass Israel in diesem Moment einen Völkermord in Palästina begeht und wir zuschauen – sogar unterstützen.«
»Völkermord«, »Genozid«, vereinzelt sogar »Holocaust« in Gaza: Das ist zu einer Parole in den sozialen Medien, auf Kundgebungen und durch die Klage Südafrikas sogar vor Gericht geworden. Nicht nur junge Menschen nutzen diese Begriffe. Einige Wissenschaftler lassen die tatsächlich genozidale Gewalt des 7. Oktober mit dem Hinweis auf den »Kontext« des Nahostkonflikts verschwinden.
Unverständnis, Abwehr und Rechtfertigung
Was sagt das über das Wissen über jüdische und deutsche Geschichte aus? War die Auseinandersetzung nicht intensiv genug, wenn nun begriffslos von Völkermord und Genozid gesprochen wird? Wir stehen vor einem Berg von Dilemmata, der uns dazu herausfordert, unsere erinnerungskulturellen Ansätze angesichts des Unverständnisses, der Abwehr und der Rechtfertigung des 7. Oktober selbstkritisch zu hinterfragen. Diese Selbstkritik ist keinesfalls als Anklage zu verstehen. Aber Erinnerungskultur wird in Deutschland oft als eine Bekenntniskultur wahrgenommen. Sie erschöpft sich in Appellen, man solle sich zur erinnerungskulturellen Verantwortung Deutschlands bekennen.
Für die Bildungsarbeit ist dies ein großes Hindernis. Wenn Lernende das Gefühl haben, dass von vornherein feststeht, was sie über die Geschichte der NS-Zeit denken sollen, bauen sie keine emotionale Bindung zu und damit auch kein Interesse an dieser Geschichte auf. Die Aufforderung zum Bekenntnis, der Wunsch nach einer klaren Positionierung gegenüber der NS-Geschichte sind oft hilflose Versuche, etwas moralisch Gutes zu bewirken.
Sie scheitern, weil sie abgelöst von den Erfahrungen und der Realität der Vermittlung in Schulen und Gedenkstätten geäußert werden. Gedenkstätten sind keine Orte der Katharsis. Sie sind Orte der Erfahrung und des Lernens, die von Trauer über Entsetzen bis zu Neugierde, Empathie und Engagement reichen können. Sie sind auch Orte der Irritation. Das bedeutet einen Verlust von Kontrolle. Es lässt sich bei einer offenen und ehrlichen Beschäftigung mit Geschichte nicht genau sagen, welche individuellen Schlüsse daraus gezogen werden, was als relevant erachtet wird.
Der 7. Oktober zeigt, dass die Vergangenheit nicht vergangen ist.
Studien zeigen, dass Jugendliche Interesse daran haben, mehr über die Täter zu erfahren, weil für sie die NS-Geschichte wichtig für ein besseres Verständnis der eigenen Diskriminierungserfahrung ist. Das muss nicht im Widerspruch stehen zur Empathie mit Betroffenen. In der stark ritualisierten Erinnerungskultur, und das bezieht sich weniger auf die Gedenkstätten, werden aber die NS-Täter auf verstörende Weise ausgespart.
Unvergleichbarkeit des Holocaust
Beides, Betroffenenperspektiven sowie Täter, muss in den Blick genommen werden, um zu begreifen, was die Vergangenheit mit uns heute zu tun hat. Vielleicht können wir dann auch besser verstehen, was die Hamas am 7. Oktober mit ihrer Grausamkeit vermitteln wollte. Daraus folgt, auch mit Analogien und Vergleichen anders umzugehen. Die Tendenz, die Unvergleichbarkeit des Holocaust zu betonen, scheint eine Aura der Unantastbarkeit und eine irritierende Form der Ehrfurcht zur Folge zu haben.
In einem offenen Brief zum »Missbrauch der Erinnerung an den Holocaust« warnten Holocaust- und Antisemitismusforscher, die aktuelle Krise im Nahen Osten mit der Schoa in Bezug zu setzen. Sie beriefen sich ausschließlich auf dessen Instrumentalisierung durch israelische oder US-Politiker. Blind blieb die Kritik aber gegenüber den unsäglichen Vergleichen des Krieges gegen die Hamas mit historischen Genoziden oder den Verbrechen der Nazis. Hier herrscht ein Ungleichgewicht im Urteil über die Angemessenheit des historischen Vergleichs.
Bezüge zwischen dem Hamas-Terror und der Schoa als »intellektuelles und moralisches Versagen« zu verurteilen, steht historischem Verstehen genauso im Weg wie der Selbstermächtigung gegenüber der NS-Geschichte und der Sensibilität für die individuelle Prägung durch Gewaltgeschichte. Der 7. Oktober zeigt, dass die Vergangenheit nicht vergangen ist. Gegenwartsbezüge sind notwendig, wenn wir die Relevanz der Vergangenheit vermitteln wollen. Diese Vermittlung geht nicht im Lernen von Fakten auf und kann nicht durch den Besuch eines historischen Ortes ersetzt werden.
Um zu verhindern, dass ein Begriff wie »Völkermord« kontextlos verwendet wird, um Verständnis dafür zu schaffen, was wir in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust über heutige Gewaltverbrechen lernen können, um einen Begriff davon zu bekommen, was der von der Hamas praktizierte Vernichtungsantisemitismus impliziert, ist es neben historischem Wissen wichtig, persönliche Bindungen zur Auseinandersetzung mit NS-Geschichte zu entwickeln. Sie wird »unsere« Geschichte nicht durch Betroffenheitsbekundung und Bekenntnis, sondern weil wir uns aktiv, neugierig und fragend mit ihr auseinandersetzen.
Die Autorin ist Leiterin der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz.