Vor wenigen Wochen wurde vielerorts noch einmal an einen meiner Amtsvorgänger erinnert: an den verehrten Ignatz Bubis sel. A. Aus diesem Anlass kam auch mir ein Vorfall wieder in den Sinn: Der israelische Präsident Weizman hielt 1996 eine Rede im Deutschen Bundestag. Anschließend kam der damalige Chef der Bundeszentrale für politische Bildung auf Bubis zu und gratulierte zur guten Rede »seines« Staatspräsidenten. Bubis war schlagfertig genug, um zu antworten: »Herr Herzog hält immer gute Reden.«
Es ist nicht lange her, da ist mir etwas Ähnliches passiert. Im Zuge der Flüchtlingsdebatte Ende des Jahres 2015 schrieb ein junger Mann auf Facebook: »Die Vermittlung unserer Werte hat bei Schuster offensichtlich auch nicht geklappt.« Ich stecke solche Sätze ziemlich gut weg. Mir muss niemand deutsche Werte vermitteln. Nachdenklich stimmen mich solche Äußerungen dennoch, und ich frage mich: Wie werden Juden heutzutage wahrgenommen in Deutschland? Wo ist unser Platz in der Gesellschaft?
Sicherlich ist Ihnen die Metapher geläufig, die in den Nachkriegsjahren verwendet wurde und auch zutraf: Die Juden in Deutschland saßen auf gepackten Koffern. Im Laufe der Jahrzehnte änderte sich dies grundlegend. Es kam eine Zeit, in den 90er-Jahren und im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts, da konnten wir sagen: Wir haben unsere Koffer ausgepackt.
Warnlicht Das stimmt noch immer. Doch in jüngster Zeit schleicht sich manchmal ein Gefühl der Unsicherheit ein. Werden wir in Deutschland als selbstverständlicher Bestandteil der Gesellschaft gesehen oder als Fremde? Bei uns blinkt inzwischen immer mal wieder ein Warnlicht. Lassen Sie mich das anhand von drei Themenfeldern aufzeigen: erstens die verbreitete Israelfeindlichkeit in unserem Land, zweitens der Antisemitismus bei Rechtsextremisten und Muslimen und drittens die zunehmende Respektlosigkeit gegenüber Minderheiten.
Was die offizielle deutsche Regierungspolitik gegenüber Israel betrifft, ist aus unserer Sicht weitestgehend alles in Ordnung. Bundeskanzlerin Merkel hat bekräftigt, dass die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson gehört. Auch unser Noch-Bundespräsident Joachim Gauck hat an dieser Haltung keinen Zweifel aufkommen lassen. Und der designierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier betont stets, dass das Existenzrecht Israels und seine Sicherheit nicht verhandelbar seien.
Ganz anders sieht es heutzutage leider in der Bevölkerung aus. Der jüdische Staat ist bis weit in die Mitte unserer Gesellschaft hinein einer massiven Kritik ausgesetzt, wie sie andere Staaten bei Weitem nicht aushalten müssen. Was steckt dahinter? Es ist häufig der uralte Antisemitismus, der sich in neuem Gewand präsentiert. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Eine sachliche Kritik an der israelischen Regierungspolitik ist völlig legitim. Die schärfsten Kritiker finden Sie vermutlich in Tel Aviv. Immer häufiger jedoch treffen wir auf Kritik, die das Existenzrecht Israels in Frage stellt oder alle Juden unter Generalverdacht.
BDS-Beschluss Ein Beispiel für eine überzogene und einseitige Kritik an Israel ist die BDS-Bewegung. Sie hat zum Ziel, Israel zu diffamieren und zu delegitimieren. Die CDU hat jüngst auf ihrem Parteitag einen Beschluss gegen die BDS-Bewegung gefasst. Wir würden es begrüßen, wenn auch andere Parteien diesem Beispiel folgten und die Ablehnung dieser Bewegung in ihre Wahlprogramme aufnähmen!
Den einseitigen Blick auf Israel finden wir mittlerweile auch in der Justiz. 2014 verübten drei junge Männer palästinensischer Herkunft einen Brandanschlag auf die Bergische Synagoge in Wuppertal. Die Täter wurden gefasst und verurteilt. In der Begründung des Gerichts wurde jedoch festgehalten, dass keinerlei antisemitische Motive bei der Tat zu erkennen seien. Die Täter hätten nur Aufmerksamkeit auf den Gaza-Konflikt lenken wollen.
Ist es da erstaunlich, dass es in der jüdischen Gemeinschaft eine Verunsicherung gibt? Ich komme damit zum zweiten Punkt: dem Antisemitismus bei Rechtsextremisten und Muslimen. Die Zahl antisemitischer Straftaten liegt auf einem konstant hohen Niveau. Unter Rechtsextremisten ist Antisemitismus der Normalfall. Und auch das Bundesverfassungsgericht, das leider die NPD nicht verboten hat, hat klar die antisemitische Haltung der NPD benannt.
Es ist hier der richtige Ort, um im Namen des Zentralrats der Juden noch einmal unseren Dank an die Bundesländer auszusprechen, die das zweite NPD-Verbotsverfahren gewagt hatten. Sie sind damit den richtigen Schritt gegangen, auch wenn das Verfahren anders ausging als von ihnen und von uns erhofft. Dennoch ist jetzt höchstrichterlich bestätigt: Die NPD ist eine verfassungsfeindliche Partei, die wesensverwandt ist mit dem Nationalsozialismus.
Niedersachsen hat sehr schnell auf das Urteil reagiert und eine Bundesratsinitiative für eine Änderung der Parteienfinanzierung eingebracht. Auch dafür danke ich Ihnen im Namen der jüdischen Gemeinschaft! Es ist unerträglich, dass die NPD auch noch mit Steuergeldern ihr braunes Gift verspritzen kann.
Antisemitismus-Beauftragter Wir brauchen Experten, die die verschiedenen Formen des Antisemitismus genau beobachten und wissenschaftlich aufarbeiten. Es ist gut, dass die Bundesregierung wieder einen Expertenkreis berufen hat. Derzeit warten wir auf den Bericht. Damit die Empfehlungen nicht in der Schublade verschwinden, sollte die Stelle eines Antisemitismus-Beauftragten der Bundesregierung geschaffen werden.
Die rechtsextreme Szene in Deutschland wird diffuser und befindet sich im Aufwind. Die Zahl der Rechtsextremisten wird auf ungefähr 23.000 Personen geschätzt. In diese Zahl eingerechnet sind aber zum Beispiel nicht die sogenannten Reichsbürger. Gerade weil die NPD nicht verboten wurde, sind jetzt der Staat und die Zivilgesellschaft gefordert, Antisemitismus und Rechtsextremismus zu bekämpfen. Wir müssen auch über muslimischen Antisemitismus sprechen. Anfang 2015 hat es für große Aufregung gesorgt, als ich in einem Radio-Interview gesagt habe, in bestimmten muslimisch geprägten Stadtteilen unserer Großstädte sei es nicht angeraten, mit Kippa herumzulaufen.
Ich habe damit nur etwas ausgesprochen, was in jüdischen Kreisen als völlig normal gilt. Gerade in den großen Städten ziehen religiöse Juden über ihre Kippa häufig eine Basecap. Frauen verstecken die Kette mit dem Davidstern-Anhänger lieber unter dem Pullover. Das gilt mit Sicherheit in Gegenden, wo man Rechtsextremisten vermutet. Aber es ist auch eine Vorsichtsmaßnahme in muslimisch geprägten Vierteln.
Dies auszusprechen, fällt mir nicht leicht. Sie können sich fast sicher sein, dass solche Aussagen genüsslich von der AfD zitiert werden. Und deshalb möchte ich ganz deutlich machen: Die jüdische Gemeinschaft lehnt jede Form von Islamfeindschaft ab!
Zum Antisemitismus, den es unter Muslimen gibt, können wir dennoch nicht schweigen. Es gibt Imame, die Hass gegen Juden verbreiten. Es sind Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, die mit einer tiefen Israel-Feindschaft aufgewachsen sind und zum Teil Hitler verehren. Auf türkischen Facebook-Seiten von DITIB wurden eindeutig antisemitische Parolen verbreitet. Ich halte es für einen richtigen Schritt der niedersächsischen Landesregierung, die Verhandlungen mit DITIB über einen Staatsvertrag vorerst ruhen zu lassen.
Angesichts dieser Gemengelage stellt sich die Frage: Sind wir bald Fremde im eigenen Land? Wo ist unser Platz in der Gesellschaft? Haben wir Juden in Deutschland eine sichere Zukunft? Damit komme ich zum dritten Themenfeld: die Entwicklung unserer Gesellschaft insgesamt, die wir spätestens seit 2015, seit den Pegida-Demonstrationen, beobachten müssen. Ich meine insgesamt den rauheren Ton, die verbale Enthemmung, das kältere Klima.
Für diese Abkühlung trägt die AfD die Hauptverantwortung. Wenn man sich die Reden und Programmatik dieser Partei anschaut, fragt man sich: Wo wollen sie hin? Ins Deutschland der 50er-Jahre? Oder gar – um den Bogen zu Weimar zu schlagen – in die 30er-Jahre? Die permanenten Sticheleien gegen Ausländer, gegen Asylbewerber, gegen Muslime, gegen Homosexuelle – damit schürt die AfD Ressentiments und nimmt wissentlich in Kauf, dass es mit verbalem Zündeln anfängt und mit brennenden Asylbewerberheimen aufhört.
AFD-anträge In der jüdischen Gemeinschaft sind wir uns völlig im Klaren: Früher oder später sind auch wir Juden an der Reihe. Über ein Verbot der Beschneidung oder des Schächtens wurde längst in der AfD diskutiert. Sie versuchen zwar mitunter, bei uns auf Stimmenfang zu gehen, und geben sich israelfreundlich. Doch davon lassen wir uns nicht blenden.
Leider ist die AfD in immer mehr Landtagen und – so müssen wir befürchten – auch im nächsten Bundestag vertreten. Die AfD versteht sich so gut auf gezielte Provokationen, dass sie sogar vom früheren NPD-Vorsitzenden Holger Apfel Applaus bekommt.
In diesem Super-Wahljahr wird die AfD versuchen, die Stimmung noch mehr anzuheizen und die gesellschaftliche Spaltung zu vertiefen. Die Rede von Björn Höcke in Dresden zeigt uns, dass der AfD dabei jedes Mittel recht ist. Jedes Thema wird instrumentalisiert, sogar die Opfer der Schoa, wenn man damit Aufmerksamkeit erregen kann. Ich denke, es wäre angemessen, Teile der Partei vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen! Und ich appelliere in diesem Wahljahr an die etablierten Parteien: Machen Sie dieses Spiel der Provokationen nicht mit! Bleiben Sie besonnen!
Wie sehr wird die Gesellschaft auseinanderdriften? Gehen Toleranz und Respekt noch mehr verloren? Wie stark ist der Schutz für Minderheiten? Für solche Fragen hat gerade die jüdische Gemeinschaft feine Sensoren. Sie treiben uns um und lassen unsere Warnlampen häufiger blinken.
Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland steht nicht vor einer Auswanderungswelle. Die Konsequenz, die wir aus diesem Gefühl der Unsicherheit ziehen, ist eine andere. Es gibt etwas sehr Wertvolles, das die Religionsgemeinschaften in diese Gesellschaft einbringen können, und das gilt nicht nur für die Christen und Juden, sondern auch für die Muslime: Das sind unsere Werte. Diese Werte stehen dem, was von AfD und Co. propagiert wird, diametral entgegen. Es sind Werte wie Nächstenliebe, Fürsorge für Schwächere und Respekt.
Wir hören sehr oft von außen, dass man dankbar sein müsse für das wieder entstandene jüdische Leben in Deutschland. Wir selbst sind auch dankbar dafür! Gerade weil wir wissen, dass dies nicht selbstverständlich ist, werden wir immer dafür kämpfen, es zu erhalten. Unsere Koffer sind ausgepackt. Unser Platz ist in Deutschland.
Auszug aus dem Manuskript des Vortrags in der Veranstaltungsreihe »Parlamentsleben« am 21. Februar im Landtag Niedersachsen