»Nie wieder Opfer«, so lautet die Maxime, die am Jom Haschoa vor einer Woche in Israel zu hören war – und an diesem 64. Unabhängigkeitstag des jüdischen Staates wiederholt wird. »Nie wieder Krieg« schallt es hingegen aus Deutschland, immer häufiger mit einem mehr als warnenden Unterton in Richtung Jerusalem.
Deutsche und Israelis besitzen aufgrund der historischen Erinnerung, aber auch wegen ihrer ganz unterschiedlichen politischen Realitäten, völlig verschiedene politische Kulturen. Darauf verwies bereits eine vor fünf Jahren veröffentlichte Studie der Bertelsmann-Stiftung. Nur: Während dort noch konstatiert wurde, dass sich Deutsche und Israelis deutlich freundlicher gegenüberstehen als noch Anfang der 90er-Jahre, scheint sich dieser Eindruck nicht mehr zu bestätigen. Zumindest nicht auf deutscher Seite.
Freund Während die Bundesrepublik in Israel als der beste Freund in Europa und einer der verlässlichsten Partner in der Welt gilt, empfinden viele Deutsche den jüdischen Staat als eine Bedrohung für den Weltfrieden. Einer Untersuchung der
Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge meinen 35,6 Prozent der befragten Bundesbürger, dass man »bei der Politik, die Israel macht … gut verstehen« könne, »dass man Juden nicht mag«. Das Ungleichgewicht in der wechselseitigen Wahrnehmung könnte kaum größer sein.
Der Historiker und Publizist Michael Wolfssohn ist der Ansicht, die Beziehung sei in Deutschland schon immer nur ein Elitenprojekt gewesen. Aber ist der Nobelpreisträger Grass nicht auch Elite? Nicht nur daran lässt sich erkennen, dass diese dysfunktionale Beziehung inzwischen selbst innerhalb der deutschen Elite kein Konsens mehr ist. Während sich hingegen israelische Intellektuelle und Künstler geradezu beispielhaft für Deutschland interessieren. Wer hätte gedacht, dass das Interesse aneinander binnen weniger Jahrzehnte eine so einseitige Dimension bekommen könnte?
Zwischen den beiden Ländern entsteht zusehends eine Kluft, die nicht zuletzt an der jeweils völlig unterschiedlichen Bedeutung liegt, die dieser Beziehung beigemessen wird. In Israel wird das Verhältnis zu Deutschland, so kurz nach dem größten Mord an unserem Volk, als Gnadenakt empfunden, jenseits von Recht und Gerechtigkeit. Demgegenüber zeigt sich der deutsche Diskurs über Israel fast nur noch in seiner rationalanalytischen Kälte, empathielos für die realen Bedrohungsängste in Israel.
Gesetzt aber den Fall, Grass hätte »recht«, dass wirklich etwas einmal gesagt werden müsste – hat es dann die Priorität, die eine Rechthaberei in einer so fragilen Beziehung haben sollte? Wer so viel Wert darauf legt, recht zu haben, der ist eigentlich auch bereit, die Beziehung daran scheitern zu lassen. Wenn es um Recht und Gerechtigkeit ginge, gäbe es noch keine israelische Botschaft in Deutschland, das wiederum isoliert im Schatten des Holocaust zurückgeblieben wäre.
Selbstbewusstsein Das deutsche Kalkül ging auf, denn dank Israel konnte sich Deutschland international rehabilitieren. Doch mit Erreichen der wichtigsten Position in Europa verlangt die kollektive Identität nach einem neuen Selbstbewusstsein. Es häufen sich die Indizien, dass Israel in den Augen von immer mehr Deutschen seine Funktion erfüllt hat und somit für Deutschland entbehrlich geworden ist.
Auch auf israelischer Seite gibt es Menschen, die eine Beziehung zu Deutschland nicht wollen. Das ist allzu verständlich, aber sie sind eine kleine Minderheit. Erstaunlich ist, dass nur drei Generationen nach dem Völkermord scharenweise Israelis nach Berlin kommen. Zehntausende besichtigen die wiedervereinigte Hauptstadt eines fremden Landes, das die wiedervereinigte Hauptstadt ihres eigenen Landes nicht einmal als solche anerkennt. Haben sie Deutschland verziehen? Nein, das können sie auch nicht. Getrieben werden sie von großer Neugier auf das Land, das Schiller und Himmler, Schwarzwaldtorten und »Endlösung« vereinen kann.
Auf deutscher Seite gibt es ebenfalls Menschen, die zu Israel keine Beziehung haben wollen. Und es werden immer mehr. Ob Links oder Rechts: Unerträglich ist, was den Holocaust unvergesslich, das Verdrängen unmöglich macht. So erscheint das Opfer als Täter, der angeblich permanent mit der Keule droht. Können es die Deutschen den Israelis verzeihen? Nein, zu groß ist ihr Unbehagen angesichts der Zeugen, zu vorbelastet die eigene Identität als Deutsche.
Wo Neugier mit Unbehagen erwidert wird, kann keine echte Beziehung gedeihen. Diese destruktive Dynamik kann und wird nicht von alleine heilen. Wenn wir uns, Deutschen und Israelis zugleich, eine echte Chance geben wollen, müssen wir uns mehr Distanz gönnen können. Würden die Israelis gegenüber Deutschland wieder etwas kritischer sein, so hätten die Deutschen auch den nötigen Freiraum, um einen selbst gewählten Zugang zu Israel zu finden.
Der Autor ist Korrespondent der israelischen Tageszeitung »Maariv«.