Fast wirkt es wie ein wehmütiges Wiedersehen. Als Norbert Lammert am vergangenen Donnerstagabend im Jüdischen Museum Berlin eintrifft, um den Leo-Baeck-Preis entgegenzunehmen, wird er sofort von einigen Parlamentariern umringt, die ihn zwölf Jahre lang als Bundestagspräsident erlebt hatten – und nun seine prägende Stimme im Parlament umso schmerzlicher vermissen dürften.
Dass die derzeitigen Bundestagsvizepräsidenten Claudia Roth (Grüne), Wolfgang Kubicki (FDP) und Petra Pau (Linke) sowie der frühere Parlamentspräsident Wolfgang Thierse (SPD) so angeregt miteinander plaudern, dürfte auch am Preisträger liegen.
Denn wie kaum ein anderer hat es der CDU-Politiker während seiner Amtszeit verstanden, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Parlaments ein lebendiges Demokratieverständnis und die Werte des Grundgesetzes zu vermitteln – mit mutigen Sätzen, klarer Haltung und nicht selten schlagfertigem Wortwitz, der vorführte, dass parlamentarische Arbeit »keine müde Veranstaltung ist, sondern unterhaltsamer sein kann als die politischen TV-Unterhaltungsformate, denen sich Lammert bis heute verweigert«, wie es Laudator Navid Kermani später formulieren wird.
Dieses »immerwährende Eintreten für die Werte unseres Grundgesetzes« sowie »seine eindrücklichen Worte in den Festakten des Bundestags am Holocaust-Gedenktag und für glaubwürdiges Eintreten für die deutsch-israelische Freundschaft« würdigt der Zentralrat der Juden in Deutschland mit der höchsten Auszeichnung, die er vergibt.
zentralrat Lammert sei »ein Meister des Wortes, ein Künstler der Sprache«, der seine Ansichten mit eindringlicher Klarheit auf den Punkt bringt, »geschliffen, aber nicht gefällig«, sagt Zentralratspräsident Josef Schuster in seiner Begrüßungsrede. Dabei sei es vor allem »ein fester eigener Standpunkt bei gleichzeitiger Offenheit für andere Haltungen sowie einem hohen Respekt vor anderen Religionen«, die Norbert Lammert auszeichnen.
So habe Lammert in seiner Rede im Jahr 2015 vor der Knesset, dem israelischen Parlament, seine Dankbarkeit für das jüdische Leben, das in Deutschland wieder entstanden ist, mit den Worten zum Ausdruck gebracht: »Dies ist die schönste Vertrauenserklärung, die es für die zweite deutsche Demokratie gibt.« Dass die jüdische Gemeinschaft dieses Vertrauen entwickeln konnte, »liegt auch an Menschen wie Ihnen«, betont Schuster.
Die anschließende Laudatio auf den Preisträger hält der Schriftsteller Navid Kermani. Ihn hatte sich Lammert ausdrücklich als Laudator gewünscht. Auch Kermani hebt die treffsicheren Wortbeiträge des früheren Parlamentspräsidenten hervor. So erinnert der Schriftsteller etwa an »die typischen Lammert-Pfeile, unvorhergesehen und wie aus dem Handgelenk geschossen, die die Abgeordneten, die Fraktionsführungen und die Regierung, die nun einmal aufs Funktionieren ausgerichtet ist, zwölf Jahre lang ein ums andere Mal aufschreckten, zu besseren Erklärungen anstachelten, aus ihrer Bequemlichkeit weckten«.
Als Lammert ans Pult tritt, kann man erahnen, welches Ansehen er genießt.
Gerhard Richter Er habe Norbert Lammert einmal gefragt, auf welche Leistung als Bundestagspräsident er besonders stolz sei, erzählt Kermani. Ohne zu zögern, habe Lammert geantwortet: »Auf den Birkenau-Zyklus«. Er meinte damit die vier großflächigen Bilder, die Gerhard Richter dem Bundestag geschenkt hat und die in der Eingangshalle gegenüber dem Gerhard-Richter-Bild Schwarz Rot Gold hängen. In der Gegenüberstellung von beidem, Nationalfarben und dem Sinnbild für das größte, unauslöschliche Verbrechen der Deutschen, drücke sich ein künstlerisches Selbstverständnis der Bundesrepublik aus, wie er sie sehe, habe Lammert damals gesagt.
Als Lammert schließlich das Rednerpult betritt, um den Preis aus den Händen des Zentralratspräsidenten Josef Schuster und den beiden Vizepräsidenten Abraham Lehrer und Mark Dainow entgegenzunehmen, kann man erahnen, welch hohes Ansehen er genießt – bei Parlamentariern, über Parteigrenzen hinweg, in der gesamten Gesellschaft.
Seine Dankesrede beginnt Norbert Lammert mit einem Zitat von Leo Baeck: »Die Geschichte der deutschen Juden ist zu Ende, die Uhr kann nicht zurückgedreht werden.« Ganz still wird es bei diesen Worten im festlich geschmückten Glashof des Jüdischen Museums mit den rund 300 Gästen aus Politik, Kultur, Gesellschaft und jüdischen Gemeinden.
Dass heute, mehr als 70 Jahre nach der Schoa, die jüdische Gemeinschaft in Deutschland die drittgrößte in Europa ist, sei eine der »wundersamsten Erfahrungen in der Geschichte der Menschheit«, sagt Lammert dann – zustimmendes Nicken im Saal. Selbiges gelte auch für die deutsch-israelischen Beziehungen, betont Lammert. Er unterstreicht, dass eine Zukunft dieser Beziehungen nicht möglich sei, ohne über die Vergangenheit zu reden. »Auschwitz ist eine deutsche Erfindung, deshalb ist Antisemitismus in Deutschland immer etwas anderes als irgendwo sonst auf der Welt.«
Hin und wiedwer blickt Lammert in den Saal. Schaut die Zuhörer direkt an, lehnt sich kurz ans Pult, trägt das Gewicht seiner Worte mit einer schwungvollen Handbewegung ins Publikum. Er spricht frei, wirkt dabei mitunter nachdenklich, streut an der einen oder anderen Stelle seinen unverwechselbaren trockenen Humor ein.
hass Ernst wird er, wenn es um Antisemitismus geht. Zu der deprimierenden Statistik, dass es Jahr für Jahr Hunderte antisemitischer Delikte gibt, gehöre, dass mehr als 90 Prozent der erfassten Straftaten von Rechtsextremen begangen werden. Statistisch fielen weder Muslime im Allgemeinen noch Flüchtlinge im Besonderen auffallend ins Gewicht.
Doch die Diskussionslage und auch die gefühlte Bedrohung seien anders, sagt Lammert. Denn über den statistischen Befund hinaus lasse sich nicht übersehen, dass es einen »diskriminierenden« und einen »aggressiven« Antisemitismus gebe. Er stellt klar: »Wer nach Deutschland einwandert, wandert ins Grundgesetz ein.« Wer hier bleiben wolle, müsse das Existenzrecht Israels als deutsches Selbstverständnis anerkennen. »Antisemiten können in diese Gesellschaft nicht integriert werden.«
In diesem Zusammenhang bedankt sich Lammert bei seinem Nachfolger, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU), der ebenfalls zu Gast ist, für dessen Rede zum Holocaustgedenktag im Bundestag, in der er wie bereits seine Vorgänger bekräftigt hatte: »Antisemitismus ist nirgendwo akzeptabel, in Deutschland ist er unerträglich.«
Am Ende seiner Rede kehren die Gedanken des Preisträgers noch einmal zu Leo Baeck zurück. Sein Laudator Navid Kermani stehe »ganz in der geistigen Tradition von Leo Baeck«, sagt Lammert.
Dass ein ausgewiesener Islamwissenschaftler und bekennender Muslim die Laudatio auf einen Christen halte, der die höchste Auszeichnung des Zentralrats der Juden in Deutschland erhalte, die dem Andenken des bedeutenden Rabbiners und Religionsphilosophen gewidmet ist, sei »ein berührendes Beispiel und ein ermutigender Beleg dafür, was in diesem Land heute möglich ist, wenn deutsche Staatsbürger unterschiedlichen Glaubens sich ihrer gemeinsamen Verantwortung für dieses Land, seine Geschichte und vor allem seine Zukunft bewusst sind«.