Von einem »offenen Streit«, einem »Zerwürfnis«, ja, von »Protesten der Nebenkläger« ist die Rede. Nur weil, wie es heißt, eine von ihnen, Eva Mozes Kor, dem Angeklagten Oskar Gröning im Prozess des Landgerichts Lüneburg die Hand zur Versöhnung gereicht hat. Ein Foto, das zeigt, wie Kor den alten Mann freundlich begrüßt, wurde von Grönings Anwalt an Medienvertreter weitergegeben.
»Die Rede vom Zerwürfnis ist übertrieben«, sagt Cornelius Nestler, einer der Anwälte, die im Verfahren gegen den SS-Mann Gröning, dem Beihilfe zum Mord in etwa 300.000 Fällen vorgeworfen wird, etliche Auschwitz-Überlebende vertreten. 49 Nebenkläger sind es, die Nestler und sein Kollege Thomas Walther betreuen, allein sie haben etwa 1000 Verwandte verloren. Sie erklären: »Wir können Herrn Gröning nicht die Mitwirkung am Mord unserer Angehörigen und weiterer 299.000 Menschen verzeihen – zumal er sich frei von jeglicher strafrechtlicher Schuld fühlt.«
klage In der Fernsehsendung Günther Jauch hatte Eva Kor mit Blick auf den Gröning-Prozess erklärt, solche Anklagen müssten aufhören. Nestler sagt dazu, Kors Verhalten sei widersprüchlich: »Entweder ist man Nebenkläger, oder man ist gegen eine Anklage.« Da Kor aber in Lüneburg auch Nebenklägerin sei, solle sie diese Rolle nicht dazu nutzen, »die Tatsache der Anklage, die von allen anderen Nebenklägern mit Vehemenz begrüßt wird, zu kritisieren«.
Schärfere Kritik an Eva Kor und ihrem Auftritt bei Günther Jauch übt Christoph Heubner, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees. Öffentliche Vergebung verletze die Integrität der anderen Auschwitz-Überlebenden, der Prozess in Lüneburg werde so »zu einer Personalityshow und Seifenoper« herabgewürdigt. »Es wäre fatal, wenn die deutsche Gesellschaft diese Geste einer Einzelnen als moralischen Freispruch und Abschlusserklärung missverstehen würde.«
Zuspruch erhält Kor etwa von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD), der auch zu Gast bei Günther Jauch war. Er bekannte seinen »großen Respekt vor den Überlebenden des Holocausts, die heute vergeben und verzeihen können«. Kors Art, mit ihrer Geschichte umzugehen, sei »zutiefst beeindruckend«. Und der »Bild«-Zeitungskolumnist Franz-Josef Wagner schrieb über Eva Kor: »Wenn so ein Mensch verzeihen kann, dann siegt nicht das Böse. Sondern das Gute.«
mengele Eva Mozes Kor war als Zehnjährige nach Auschwitz deportiert worden. Der SS-Arzt Josef Mengele nahm an ihr und ihrer Zwillingsschwester Miriam grausame Experimente vor. Ihre Eltern und Geschwister wurden in Auschwitz ermordet, Miriam starb 1994 an den Spätfolgen von Mengeles Eingriffen.
Warum Eva Kor gegenüber Gröning von »Versöhnung« spricht, erklärte sie auf »Quora«, einer amerikanischen Frage-Antwort-Webseite. Sie habe bei ihrem Zusammentreffen in Lüneburg zu Gröning gesagt: »Ich schätze es, dass Sie hier bereit sind, uns gegenüberzustehen.« Aber Gröning solle gegen Rechtsextremismus aktiv werden.
Weiter sagt Kor dort: »Ich habe den Nazis vergeben und jedem, der mich verletzt hat. Aber ich habe ihm auch gesagt, dass meine Vergebung mich nicht davon abhält, von ihm zu fordern, dass er Verantwortung für seine Taten übernimmt.« Zu dem Foto von ihr und Gröning teilt sie mit: »Es zeigt zwei Menschen, 70 Jahre nachdem es passiert ist.« Kor schreibt dort auch: »Ich bin in der Minderheit, das weiß ich. Vielleicht bin ich sogar nur die Minderheit von einer Person.« Zugleich hält sie ein Plädoyer für einen »Dialog zwischen den Überlebenden und den Tätern«, der früher hätte beginnen müssen.
ss-arzt 1995, als in Polen die Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz stattfanden, war Eva Kor auch angereist. Damals hatte sie einen SS-Arzt von Auschwitz, Hans Münch, eingeladen. Der Mann, ein Mitarbeiter von Mengele, reiste nach Auschwitz, um dort öffentlich zu bezeugen, dass es die Gaskammern wirklich gegeben hat. Auf Bitte von Frau Kor nahm er damals eine Führung durch das ehemalige Lager vor, ja, er sprach sogar das Kaddisch. Von Münch forderte Kor damals, er solle alle Informationen offenbaren, was ihr und ihrer Schwester angetan wurde. »Dann bin ich willens und fähig zu vergeben«, sagte Kor 1995.
Die Aktion wurde damals – trotz einer von Kor und Münch bestrittenen großen Pressekonferenz – nur wenig medial verbreitet. Jüdische Verbände, etwa eine Organisation der in Israel lebenden »Mengele-Zwillinge«, hatten Kor damals massiv kritisiert.
2009 kam Eva Kor in die Kritik, weil sie Rainer Höß, den Enkel des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß, traf, der gerade erst versucht hatte, den Nachlass seines Großvaters gegen viel Geld an die Gedenkstätte Yad Vashem zu verkaufen.
Für die Nebenkläger von Lüneburg sagt deren Anwalt Cornelius Nestler, Kor habe sich für ihre individuelle Versöhnungsgeste einen »unpassenden Ort« ausgesucht.