Gideon Greif gilt in Israel als Historiker mit unbestrittenen Verdiensten. 1995 sorgte sein Standardwerk über das »Sonderkommando« von jüdischen Häftlingen, die von der SS als Helfer zur Ermordung anderer Gefangener in Auschwitz-Birkenau zwangsrekrutiert worden waren, für großes Aufsehen.
Einige Jahre später brachte Greif gemeinsam mit Laurence Weinbaum und Colin McPherson das Buch Die Jeckes. Deutsche Juden aus Israel erzählen heraus. Darin finden sich 66 Berichte über die Flucht aus Deutschland und den Neuanfang in Israel.
yad vashem Gideon Greif ist selbst Sohn von »Jeckes«. Geboren wurde der heute 70-Jährige in Tel Aviv. Zwischen 1983 und 2009 arbeitete er als Redakteur, Pädagoge und Dozent an der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Seitdem wirkt er als Chefhistoriker des Schem-Olam-Instituts in Israel.
Für sein Lebenswerk sollte Greif eigentlich am 10. November im Namen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier von Deutschlands Botschafterin in Tel Aviv, Susanne Wasum-Rainer, mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet werden.
Anfang vergangener Woche wurde die Zeremonie kurzerhand verschoben.
Doch Anfang vergangener Woche wurde die Zeremonie kurzerhand verschoben – »aus unvorhergesehenen internen Gründen«, wie es in einer E-Mail der Protokollabteilung der Botschaft an die geladenen Gäste hieß. Nur wenige Stunden später teilte das Bundespräsidialamt mit, in Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt werde die Ehrung derzeit »einer neuerlichen Prüfung unterzogen«.
KOMMISSION Auslöser waren kritische Presseberichte in Bosnien-Herzegowina gewesen. Dort steht Gideon Greif seit einiger Zeit in der Kritik. 2019 wurde er von der nationalistischen Regierung der autonomen bosnischen Teilrepublik »Republika Srpska« (RP) als Vorsitzender einer »Unabhängigen internationalen Untersuchungskommission zum Leiden aller Menschen in der Region Srebrenica zwischen 1992 und 1995« ernannt.
Deren Titel nahm in gewisser Weise das Endergebnis vorweg – offenbar ganz im Sinne des Auftraggebers: Der frühere RP-Präsident Milorad Dodik leugnet seit einigen Jahren, dass in Srebrenica ein Genozid stattgefunden hat. Die Särge dort seien leer, behauptete der Serbenführer jüngst.
Das Pikante an der Sache: Dodik ist aktuell als serbisches Mitglied des dreiköpfigen Präsidiums von Bosnien-Herzegowina amtierendes Staatsoberhaupt des Landes – und dort steht das Leugnen von Völkermord eigentlich unter Strafe.
abschlussbericht Der Abschlussbericht der Greif-Kommission wurde im Juli dieses Jahres vorgelegt. Von einem Genozid an bosnischen Muslimen in Srebrenica könne keine Rede sein, folgerten die zehn Mitglieder, denn: Unter den Toten hätten sich auch Serben befunden. Die Opferzahl des Massakers in der Kleinstadt auf dem Territorium der heutigen RP rechnete das Gremium auf 2500 bis 3000 »Kriegsgefangene« und »mehrere Hundert Zivilisten« herunter. Es habe sich zwar um ein Kriegsverbrechen, aber nicht um einen Völkermord gehandelt.
Die Rolle des israelischen Historikers wird in Bosnien kritisch gesehen.
Diesen Schlussfolgerungen der Kommission stehen Urteile des Internationalen Jugoslawien-Tribunals in Den Haag gegenüber. Auch die meisten Experten sehen es als erwiesen an, dass in Srebrenica im Juli 1995 ein von serbischer Seite geplanter und exekutierter Genozid an 8000 bosnischen Muslimen – fast alles Männer – stattfand.
Und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier selbst veröffentlichte im vergangenen Jahr, zum 25. Jahrestag des Massakers, eine Videobotschaft, in der er die deutsche Position klarstellte: »Es war Völkermord.«
Srebrenica Damir Softic vom deutschen Zentralrat von Bosnien-Herzegowina sagte dieser Zeitung, es sei »skandalös«, dass Greif trotz seiner Rolle in der Srebrenica-Kommission den Verdienstorden erhalten solle. Das Auswärtige Amt habe die Angelegenheit nicht gründlich genug geprüft. »Das ist in jedem Fall traurig. Deutschland hat ja Diplomaten in Sarajewo, die Lageberichte schreiben. So etwas muss man auf dem Schirm haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man dort über diese Srebrenica-Kommission nicht informiert war«, sagt Softic. Das Ministerium von Heiko Maas wollte sich auf Anfrage der Jüdischen Allgemeinen nicht zu dem Vorgang äußern.
Die Srebrenica-Gedenkstätte begrüßte die Entscheidung, die Auszeichnung zu überprüfen. »Ohne andere Leistungen und Arbeiten von Gideon Greif in Bezug auf das Verbrechen des Holocausts zu bestreiten, halten wir es für unzulässig, Greifs Beitrag zum Geschichtsrevisionismus und zur Politisierung des Völkermordes von Srebrenica bei der Entscheidung (…) nicht zu berücksichtigen«, erklärte sie.
»Ich erwarte, dass die Bundesregierung letztendlich beschließt, diese Auszeichnung zu verleihen.«
Gideon Greif
Auch Ivan Ceresnjes, zur Zeit des Bürgerkriegs auf dem Balkan in den 90er-Jahren Vorsitzender der bosnischen jüdischen Gemeinde, sieht die Ehrung Greifs kritisch. »Die serbische Seite hat einen Bericht gekauft und sieht seinen Namen als Trumpfkarte im Kampf um die internationale Meinungsführerschaft. Greif – ein jüdischer Israeli und ehemaliger Yad-Vashem-Mitarbeiter – sollte dem Bericht Gewicht verleihen«, so Ceresnjes zu dieser Zeitung.
»UNRECHT« Der Betroffene sieht das naturgemäß anders. Seine Kommission habe zehn unabhängige Mitglieder gehabt, darunter Historiker und Juristen. »Wir bekamen keine Bezahlung, es gab keinen Druck«, sagte Gideon Greif der israelischen Zeitung »Globes«. Alles sei einstimmig beschlossen worden. Mit der Entscheidung, die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an ihn erneut zu prüfen, werde ihm Unrecht getan.
»Ich erwarte, dass die Bundesregierung letztendlich beschließt, diese Auszeichnung zu verleihen.« Es gebe »niemanden, der besser geeignet wäre als ich, diesen Preis von Deutschland zu erhalten, einem Land, das Verantwortung für die Schoa übernommen hat«. Denn er gehöre zu jenen Personen, die sich am meisten für die Erforschung des deutschen Massenmordes an den Juden eingesetzt hätten.