USA

Um Haaresbreite

Wird das Attentat die Präsidentschaftswahl entscheiden? Donald Trump unmittelbar nach dem Anschlag am vergangenen Samstag in Pennsylvania Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Genügt die Gewalttat eines 20-jährigen Mannes, um die amerikanische Demokratie ins Wanken zu bringen? Reicht sie, um die Wahl für das mächtigste Amt der Welt zu entscheiden?

Wer am vergangenen Samstag die Bilder aus einem 13.000 Einwohner zählenden Städtchen tief im Westen des Bundesstaates Pennsylvania sah, dem werden solche Gedanken durch den Kopf gegangen sein. Der ein oder andere fasste sich womöglich instinktiv ans rechte Ohr, hatte sogar Mitleid mit Donald Trump. Obwohl den viele – nicht zu Unrecht – als eine Art Totengräber der amerikanischen Demokratie ansehen, unter anderem, weil er seine Wahlniederlage nicht anerkannt hat und am 6. Januar 2021 einen Mob auf den Kapitolshügel in Washington schickte, um Abgeordnete massiv unter Druck zu setzen. Mehrere Menschen verloren an jenem Tag ihr Leben, auch das hat niemand vergessen.

Verschwörungstheorien im Internet

Jetzt gab es erneut Tote und Verletzte. Im Visier war dieses Mal Trump selbst. Eine Kugel traf sein rechtes Ohr. Hätte er den Kopf nur ein paar Millimeter gedreht, wäre er nicht mehr am Leben. Was dann in Amerika los gewesen wäre, kann man sich leicht ausmalen. Manche befürchteten sogar einen Bürgerkrieg. Das Internet ist schon wieder voll von Verschwörungstheorien, obwohl bislang alles darauf hindeutet, dass der Attentäter im Alleingang gehandelt hat.

Trump trägt, so hart das klingt, eine Mitverantwortung für das aggressive politische Klima im Land. Kein Politiker hat das Land so sehr gespalten wie er. Seine Republikaner liegen ihm zu Füßen. Die Partei wurde einst von Abraham Lincoln gegründet, der 1865, nach dem Bürgerkrieg, auch Opfer eines Anschlags wurde. Sie trägt den Beinamen »Grand Old Party«.

Doch nicht erst, seit Trump das Sagen hat, stehen moderate, im wahrsten Sinne des Wortes der »Republik« verpflichtete Republikaner auf verlorenem Posten. Trump sieht sich allen Ernstes als ebenso bedeutenden Präsidenten an wie Lincoln. Für seine Anhänger ist er der Messias, für sie kann er nichts falsch machen. Seine Gegner hassen ihn dafür umso mehr. Im November nun tritt der 78-Jährige zum dritten Mal für die Republikaner zur Präsidentschaftswahl an. Die erste Wahl (2016) gewann er knapp gegen Hillary Clinton. Die zweite (2020) verlor er ebenso knapp gegen den amtierenden Präsidenten Joe Biden.

Noch ist nicht klar, ob das Bild des blutüberströmten Trump den Wahlkampf entschieden hat.

Beide Male bekam Trump deutlich weniger Stimmen als seine Konkurrenten, verlor das »Popular Vote«. Doch darauf kommt es bekanntlich nicht an. Das Wahlsystem spricht in den meisten Fällen die Wahlmänner des jeweiligen Bundesstaates dem Erstplatzierten zu. Viele bevölkerungsreiche Bundesstaaten wie Kalifornien oder New York spielen für den Ausgang der Wahl keine Rolle; die Republikaner haben dort keine Siegchancen. Genauso wenig, wie die Demokraten Staaten wie Missouri oder Mississippi gewinnen können.

Wahlkampf in den »Swing States«

Der Wahlkampf konzentriert sich deswegen auf die »Swing States«, in denen beide Parteien eine realistische Chance auf Erfolg haben, also auf Pennsylvania, Ohio, Michigan, Georgia und Wisconsin. Zu diesen Staaten gehören auch krisengeplagte Landstriche im einstigen »Stahlgürtel«. Das industrielle Herzland der USA wird mittlerweile nur noch »Rostgürtel« genannt.

Die Lebenswirklichkeit der Menschen dort ist eine andere als die der Einwohner von San Francisco oder New Yorks. Im Herzen Amerikas wird nach anderen Kriterien gewählt. Wahlkämpfer, die diese Menschen nicht ansprechen, haben kaum Chancen, ins Weiße Haus einzuziehen.
Bei seinem Wahlsieg 2016 gelang es Donald Trump, gerade bei dieser Wählerschaft zu punkten.

Und Joe Biden vereitelte ebendort Trumps Wiederwahl. Ob der greise Präsident das noch einmal schaffen kann, bezweifeln mittlerweile viele in der Demokratischen Partei. Dennoch ist Vorsicht geboten mit vorschnellen Prognosen: Noch ist nicht gewählt. Noch ist nicht ausgemacht, ob das Bild des blutenden Donald Trump, wie er die Faust in die Höhe reckt und seinen Anhängern »Kämpft!« zuruft, bevor er in Sicherheit gebracht wird, den Wahlkampf entschieden hat, wie viele gerade behaupten.

Das Attentat hat Trumps Wähler sicher noch mehr angestachelt, ihn fast zu einem Märtyrer gemacht.

Ja, das Attentat hat Trumps Wähler sicher noch mehr angestachelt, ihn fast zu einem Märtyrer gemacht. Nur: Wird das reichen, um die Swing States zu gewinnen? Oder hat nicht gerade das Foto von Trump und der Kugel, die knapp an ihm vorbeirauscht, Wechselwählern klargemacht, dass jetzt eher Versöhnen statt Spalten angesagt wäre, die US-Demokratie nicht weit vom Abgrund entfernt steht und die wenig glamouröse, aber solide und integrierende Politik Bidens besser ist für das Land und seine Bürger?

Niemand kann zum jetzigen Zeitpunkt sagen, dass das Rennen um das Weiße Haus nun gelaufen sei. Doch man darf hoffen, dass bei einigen allerspätestens jetzt ein Umdenken eingesetzt hat. Denn nach Jahren der Agitation, der ideologischen Aufheizung und der Gewalt ist die älteste Demokratie der Welt in keinem guten Zustand. Wie der einstige Stahlgürtel hat auch sie Rost angesetzt, ihre Institutionen funktionieren eher schlecht als recht.

Zwei alte Männer streiten gerade darum, noch einmal vier Jahre an ihrer Spitze stehen zu dürfen. Die Welt starrt auf dieses Schauspiel wie das Kaninchen auf die Schlange – und hofft, dass noch einmal alles gut gehen wird. Und sei es auch nur um Haaresbreite.

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