Als politischer Quereinsteiger hatte Wolodymyr Selenskyj 2019 im Wahlkampf versprochen, auf die prorussischen Rebellen im Osten zuzugehen, um eine Lösung des Konflikts zu finden. Auch deswegen erhielt er damals eine deutliche Mehrheit. Doch nach gut zweieinhalb Jahren im Amt ist eine Lösung ferner denn je. Entsprechend sind auch die Beliebtheitswerte des ukrainischen Präsidenten gesunken.
Inzwischen ist die Sorge groß, dass russische Truppen nicht nur die Rebellengebiete endgültig besetzen könnten, sondern womöglich gleich auch den Rest des Landes. Und angesichts dieser bedrohlichen Lage scheint die Opposition eine Chance zu wittern. Ex-Präsident Petro Poroschenko, den Selenskyj besiegt hatte, ist in die Heimat zurückgekehrt, um sich selbstbewusst einem Prozess wegen Hochverrats zu stellen.
Parallel scheint Moskau bemüht, Unterstützung für prorussische Politiker in der Ukraine zu organisieren. Einige Experten gehen davon aus, dass auch die Stationierung von Zehntausenden Soldaten an der Grenze dazu dienen soll, einen Machtwechsel in dem Nachbarland herbeizuführen. Britische Geheimdienste hatten im Januar berichtet, der Kreml wolle Selenskyj stürzen und durch den Anführer einer kleinen Partei ersetzen, der eine weitere Annäherung an den Westen ablehnt.
Selenskyj versuchte am Sonntag, die Stimmung ein wenig zu beruhigen, indem er die jüngsten Warnungen der USA vor einem möglicherweise unmittelbar bevorstehenden russischen Angriff herunterspielte. »Wir sind uns der Risiken bewusst«, sagte er. Aber wenn irgendjemand wirklich »Informationen bezüglich einer hundert Prozent sicheren Invasion mit Beginn am 16.« habe, solle der oder die sich melden, fügte er hinzu.
Die aktuelle Krise ist auch eine enorme Belastungsprobe für die ukrainische Demokratie. In den zurückliegenden Jahrzehnten waren die politischen Verhältnisse ohnehin oft chaotisch. Zweimal gab es größere Volksaufstände – im ersten Fall wurde die Wiederholung einer von Betrug geprägten Präsidentschaftswahl erzwungen, im zweiten verließ ein prorussischer Präsident nach tödlicher Gewalt in Kiew das Land. Im Parlament hat es mehrfach offene Schlägereien gegeben. Politische Allianzen ändern sich häufig und Parteien verwandeln sich in neue Entitäten.
Die »größte Gefahr für die Ukraine und die größte Gefahr für die Unabhängigkeit« sei eine »Destabilisierung« innerhalb des Landes, sagte Selenskyj im Januar. Viele Ukrainer scheinen aber zu bezweifeln, dass der Präsident selbst für Stabilität sorgen könne. Laut einer aktuellen Umfrage des International Institute of Sociology in Kiew wünschen sich nur 30 Prozent der Bevölkerung, dass er für eine zweite Amtszeit antritt und nur 23 Prozent würden ihm derzeit ihre Stimme geben.
»Selenskyj hatte versprochen, den Krieg zu beenden und die Korruption zu bezwingen, aber daraus ist nichts geworden«, sagt Anatoli Rudenko, ein 48-jähriger Fahrer aus Kiew. »Die Preise steigen, die Korruption ist nicht verschwunden und wir leben jetzt noch ärmlicher.« »Das Wunder ist nicht wahr geworden. Die Lage wird nur schlechter«, sagt die 54-jährige Ökonomin Tatjana Schmelewa.
Bekanntheit erlangte Selenskyj in der Ukraine zunächst als Schauspieler in einer Fernsehserie – er spielte die Rolle eines Lehrers, der sich gegen Korruption einsetzt und am Ende unbeabsichtigt zum Präsidenten wird. Aus Sicht des Experten Wladimir Fessenko orientierte sich Selenskyj auch als »echter Präsident« zunächst zu sehr an der einstigen TV-Rolle.»Selenskyj beging den Fehler, sich mit allen Oligarchen der Ukraine, die die wichtigsten politischen Kräfte, Parteien und TV-Sender kontrollieren, gleichzeitig anzulegen. Das ist ein sehr gefährliches, sehr riskantes Spiel«, sagt der Leiter des Instituts Penta.
Einer der Oligarchen ist Ex-Präsident Poroschenko, der sich vor Gericht verantworten muss, weil er den Verkauf von Kohle zur Finanzierung der Rebellen ermöglicht haben soll. Ein anderer ist Rinat Achmetow, der aus dem Osten stammt und eine Oppositionsfraktion kontrolliert. Ein weiterer ist der prominenteste prorussische Politiker Viktor Medwedtschuk, dessen Fernsehsender wegen des Vorwurfs der Verbreitung von Falschinformationen gesperrt worden sind.
Diese Oligarchen verfolgen durchaus unterschiedliche Interessen.
Experten gehen aber davon aus, dass Moskau jegliche Art von Opposition zu nutzen versucht, um Selenskyj zu schwächen. »Es gibt keine offen prorussischen Kräfte, die in der Lage wären, auf legale Art bei Wahlen an die Macht zu kommen. Der Kreml muss daher nach verdeckten Verbündeten suchen und geheime Verhandlungen mit mehreren ukrainischen Akteuren gleichzeitig führen«, sagt Fessenko. Russland setze dabei auf »wirtschaftliche, energiebezogene und politische« Mittel, um »flexible« Partner zu finden.
Ziel des russischen Präsidenten Wladimir Putin sei eine »Destabilisierung unseres Staates«, betont auch Oleksij Danilow, Chef des Nationalen Sicherheitsrats der Ukraine. »Kann er das militärisch erreichen? Nein, kann er nicht. Dazu braucht er interne Destabilisierung.« Der Experte Wolodymyr Sidenko vom Rasumkow-Zentrum hält eine Zusammenarbeit der ukrainischen Oligarchen mit dem Kreml allerdings für unwahrscheinlich, weil es keine Basis für stabile wirtschaftliche Beziehungen zwischen den beiden Ländern gebe.
Die nächsten ukrainischen Parlamentswahlen sind für 2023 geplant. Sollte das Selenskyj-Lager dabei die Mehrheit verlieren, dürfte es auch mit der Wiederwahl des Präsidenten im Jahr 2024 schwierig werden. Am Ende könnte aber auch die aktuelle Krise Selenskyj noch in die Hände spielen. »Er versucht gerade, alle zu einen, die für eine unabhängige und europäische Ukraine stehen«, sagt Grigori Choronenko, ein Programmierer aus Kiew.
In dem britischen Geheimdienst-Bericht hieß es, Moskau wolle möglicherweise Jewhenij Murajew zum Präsidenten der Ukraine machen.
Dieser gehörte früher zur Oppositionspartei des Oligarchen Medwedtschuk, hat inzwischen aber eine eigene Partei gegründet, die nicht im Parlament vertreten ist. Am Freitag wurde auch ein von Murajew kontrollierter Fernsehsender gesperrt. Aus Sicht des Experten Fessenko sind die Spekulationen um diesen prorussischen Politiker aber eher abwegig. Womöglich seien diese sogar gezielt von Russland lanciert worden, sagt er – um von den Akteuren abzulenken, mit denen der Kreml tatsächlich zusammenarbeite.