Es ist der Abend des 4. Oktober 2021: Vor dem »Westin«-Hotel in Leipzig sitzt der Sänger Gil Ofarim auf dem Bordstein und filmt sich selbst. In einem Instagram-Video erhebt er schwere Vorwürfe gegen den diensthabenden Rezeptionisten.
»Packen Sie Ihren Stern weg, dann dürfen Sie einchecken«, habe Herr W. ihn beim Einchecken angeherrscht, so Ofarim, als dieser sich beklagt habe, dass andere Hotelgäste, die in der Schlange hinter ihm standen, vorgelassen würden. Mit dem »Stern« war die Halskette des Künstlers gemeint, die dieser nach eigener Auskunft immer bei öffentlichen Auftritten trägt. An ihr hängt ein großer Davidstern. Diesen hält Ofarim in die Handykamera.
EMPÖRUNG Der Vorwurf gegen den Mitarbeiter des Hotels ist mit seinem Video in der Welt: offener Antisemitismus gegenüber einem Hotelgast. Ofarims Clip geht in den sozialen Netzwerken viral und löst eine große Welle der Empörung aus. Politiker und zahlreiche jüdische Organisationen glauben seinen Schilderungen und verurteilen die vermeintliche antisemitische Tat scharf.
Doch das Management erklärt umgehend, dass der betroffene Mitarbeiter energisch bestreite, dass sich die Dinge so zugetragen hätten, wie sie von Ofarim geschildert worden seien. Beim Einchecken habe der Musiker seine Halskette gar nicht getragen, zumindest nicht für andere sichtbar.
Eine vom Westin in Auftrag gegebene Untersuchung kommt ebenso wie später Polizei und Staatsanwaltschaft zu dem Schluss, dass die Version des Rezeptionisten die richtige sei. Weder die in der Hotellobby zu jenem Zeitpunkt anwesenden Personen noch die Bilder der Überwachungskameras geben offenbar Anhaltspunkte für die von Ofarim aufgestellten Behauptungen. Daraufhin wendet sich die öffentliche Stimmung. Nachdem anfangs sogar Boykottaufrufe gegen das Westin aufgekommen waren, wird nun der Künstler selbst zur Zielscheibe. Ofarim sieht sich dem Vorwurf der Lüge und üblen Nachrede ausgesetzt.
In den Folgemonaten werden zahlreiche, eindeutig antisemitische Anfeindungen gegen Ofarim registriert. In München, wo der 40-Jährige lebt, hat die Staatsanwaltschaft bereits mehr als 130 Ermittlungsverfahren wegen Beleidigung eingeleitet; mehrere Personen wurden zu Geld- und Haftstrafen verurteilt. Ofarim sei mittlerweile einer der »meistgehassten Menschen Deutschlands«, brachte es die Tageszeitung »Die Welt« vergangene Woche auf den Punkt.
Die Staatsanwaltschaft Leipzig ist sich sicher: So, wie von dem Musiker behauptet, hat sich der Vorfall am 4. Oktober 2021 nicht zugetragen. In einer Mitteilung vom März dieses Jahres heißt es, das Verfahren gegen den Hotelmitarbeiter sei eingestellt worden, da die Ermittlungen keinen hinreichenden Tatverdacht ergeben hätten.
»Die Staatsanwaltschaft Leipzig hat demgegenüber gegen den Angeschuldigten Gil Ofarim wegen des Tatvorwurfs der falschen Verdächtigung in zwei Fällen, davon einmal in Tateinheit mit Verleumdung, Anklage zum Landgericht Leipzig erhoben.« Zudem strengt die Behörde ein zweites Verfahren an, in dem sich Ofarim wegen mutmaßlich falscher eidesstattlicher Versicherungen verantworten soll.
ÜBERLASTUNG Der erste Prozess sollte eigentliche kommende Woche vor dem Landgericht Leipzig verhandelt werden. Doch daraus wird nun nichts. Die zuständige 6. Kammer des Landgerichts hat überraschend entschieden, dass das Verfahren auf Eis gelegt und die Hauptverhandlung verschoben wird. Mit einer Neuterminierung sei in den kommenden sechs Monaten nicht zu rechnen – zu sehr sei man mit anderen Fällen ausgelastet, so die Richter.
Sie werfen gleich allen drei Prozessparteien (Verteidiger, Staatsanwaltschaft und Nebenkläger) vor, mit ihren Aktionen kurz vor Prozessbeginn das Verfahren belastet zu haben. Erst Ende vergangener Woche beantragten die Anwälte des von Ofarim bezichtigten Hotelmitarbeiters, Schadenersatzansprüche gegen den Beschuldigten im sogenannten Adhäsionsverfahren, also bereits während des Strafprozesses, geltend machen zu dürfen.
Scharf kritisiert das Landgericht vor allem die Verteidiger Gil Ofarims: Diese hätten mit ihrer »Medienarbeit« sowie der Verbreitung von »Fehlinterpretationen« versucht, den Prozess zu diskreditieren.
PROMINENTENSTATUS Dem öffentlich kolportierten Eindruck, der Angeklagte werde »ob seines tatsächlichen oder vermeintlichen Prominentenstatus schlechter behandelt als ›durchschnittliche‹ Angeklagte«, wolle man durch die Verschiebung des Prozesses entgegenwirken. Damit gebe es jetzt auch genügend Zeit, um Entscheidungen über noch offene Rechtsmittel der Verteidigung gegen die Kammer zu treffen. Die Absetzung der Hauptverhandlung sei »vor allem in Ansehung der Fürsorgepflicht für den Angeklagten« angezeigt gewesen, so die Richter.
Alexander Stevens, einer der drei Anwälte Ofarims, sprach sogar von einem bevorstehenden »Schauprozess«. Den renommierten Strafrechtler Thomas Fischer überzeugt das nicht. Er weist den Begriff zurück. »Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Justiz den vorliegenden Fall in irgendeiner Weise inadäquat behandelt«, sagte Fischer im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen.