Dieser Tag, Sonntag, der 13. Oktober, machte einen wunderlichen Eindruck auf mich. 140.000 Juden aus den Vororten Warschaus (...) werden gezwungen, ihr Heim zu verlassen und in das Ghetto zu ziehen. Alle Vororte sind von den Juden geleert worden. (...) Den ganzen Tag bewegten die Menschen Möbel». Emanuel Ringelblum (1900–1944), der ein Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos aufbaute, hielt fest, wie die Juden in den Vorhof zur Hölle einzogen. Nur wenige entgingen der Ermordung.
Bis 1939 beherbergte die polnische Hauptstadt die größte israelitische Kultusgemeinde Europas. Dann kamen die deutschen Besatzer. Vor 75 Jahren, am 2. Oktober 1940, befahlen sie, mitten in der Altstadt ein Ghetto einzurichten. Fast 500.000 Frauen, Männer und Kinder verschwanden über die Jahre hinter Mauern und Stacheldraht. Bis zu 5000 Menschen starben in nur einem Monat an Hunger, Kälte oder Seuchen. Hunderttausende wurden in Vernichtungslager deportiert.
«Alltagsgeschäft» Marcel Reich-Ranicki (1920–2013), dem 1943 die Flucht aus dem Warschauer Ghetto gelang, erinnerte sich später an die Zeiten der deutschen Besatzung, «an das große Gaudium der Sieger, das unvergleichliche Vergnügen der Eroberer, die Jagd auf die Juden». Der Historiker Stefan Klemp betont, dass es vor allem Polizisten und nicht SS-Angehörige waren, die das «Alltagsgeschäft» des Mordens besorgten. Sie trugen berüchtigte Spitznamen: «Duschek Judenschreck», «Frankenstein» oder «Totenkopfjäger». Klemp zufolge wetteiferten sie, wer die meisten Juden erschoss.
Am 2. Oktober 1940 vollzog der Gouverneur des Distrikts Warschau im Generalgouvernement Polen, Ludwig Fischer, offiziell die Gründung des Ghettos. Er ordnete an, dass die jüdische Bevölkerung aus Warschau und der näheren Umgebung binnen sechs Wochen in das Sperrgebiet umzuziehen hatte. Mitte November riegelten die Besatzer das Areal dann ab. Wachen zogen auf, der Schmuggel wurde lebensnotwendig – und zugleich lebensgefährlich.
«Damit drängten sich etwa 30 Prozent der Warschauer Bevölkerung auf 2,4 Prozent des Stadtgebiets», schreibt die Münchner Historikerin Andrea Löw. Das Ghetto, von den Deutschen verharmlosend «Jüdischer Wohnbezirk» genannt, umfasste nur wenig mehr als drei Quadratkilometer. Sieben bis acht Menschen lebten durchschnittlich in einem Zimmer, manchmal waren es bis zu 13. Es fehlte an allem: an Nahrung, Medikamenten, Waren des täglichen Bedarfs. Die Kohle zum Heizen reichte nicht einmal für die Hälfte der Bevölkerung.
selbstverwaltung Tragische Figur war der Ingenieur Adam Czerniaków, Vorsitzender des Judenrates. Ihn hatten die Deutschen eingesetzt, um per Selbstverwaltung vor allem die Bereitstellung von Arbeitskräften und die Organisation von Arbeit im Ghetto regeln zu lassen. Czerniaków musste an seiner Aufgabe scheitern: «Er wollte Leben organisieren innerhalb eines Systems, in dem Überleben letztlich nicht vorgesehen war», schreibt Löw.
Im Sommer 1942 begannen die Nazis, die Ghettoinsassen in die Vernichtungslager der Umgebung zu bringen, vor allem ins nahe gelegene Treblinka. Täglich musste der Judenrat bis zu 6000 Menschen zur Deportation auswählen. Czerniaków weigerte sich, dafür Listen zu erstellen. Am 23. Juli beging er Suizid: Er wollte nicht mit den Nazis kollaborieren. Stoppen konnte er die Aktion nicht. Bis zum 21. September fuhren etwa 260.000 Menschen in Güterwaggons in den Tod.
In den Morgenstunden des 19. April 1943 drangen motorisierte SS- und Polizeitruppen mit ihren Helfern ins Ghetto ein, um die verbliebenen 70.000 Bewohner abzutransportieren. Doch schon nach wenigen Metern wurden sie beschossen und mit Molotowcocktails beworfen. Die überraschten Deutschen zogen sich zurück – ein Triumph für den «Jüdischen Kampfbund». Waffen waren auf dem Schwarzmarkt gekauft und von der polnischen Untergrundorganisation «Heimatarmee» geliefert worden.
anführer Die Deutschen setzten daraufhin systematisch ganze Häuserzeilen in Brand und sprengten Gebäude. Den wenigen Hundert jüdischen Kämpfern mangelte es an Waffen, Munition und militärischer Ausbildung, aber nicht an Mut. Anführer einer der beteiligten Kampforganisationen, des ZOB, war der 24-jährige Mordechai Anielewicz. «Mein Lebenstraum hat sich erfüllt. Der bewaffnete jüdische Widerstand und die jüdische Vergeltung sind Wirklichkeit geworden. Ich habe gesehen, wie wunderbar heldenhaft jüdische Truppen kämpften», schrieb er einem Mitstreiter. Anielewicz starb mit mehreren Getreuen am 8. Mai in einem Bunker.
«Es ging nur darum, die Art des Sterbens zu wählen», sagte Marek Edelman später, einer der wenigen Überlebenden des Aufstandes im Warschauer Ghetto: «Es ging darum, sich nicht abschlachten zu lassen.» Knapp vier Wochen lang gelang es den Juden, sich im Häuserkampf zu halten. Nur einzelne Kämpfer konnten fliehen. Am 16. Mai 1943 erklärte der SS-General Jürgen Stroop: «Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr.»