Jahrestag

Überfall auf Polen vor 85 Jahren: Gibt es Parallelen zu heute?

Die Wehrmacht 1939 in Warschau Foto: picture alliance / Heritage Images

Am 1. September 1939 überfiel Nazi-Deutschland das Nachbarland Polen. Unter Historikern wird kontrovers diskutiert, ob es Parallelen zum heutigen Krieg Russlands gegen die Ukraine gibt.

Als die Berliner am 31. August 1939 ins Bett gehen, herrscht noch Frieden. Am nächsten Morgen erwachen sie im Krieg. Aber dieser Krieg ist für sie zunächst noch nicht sichtbar. Der Berufsverkehr rollt an wie an jedem anderen Tag, die Sonne strahlt warm vom Himmel, höchstens fallen ein paar besorgte Gesichter auf.

Gegen 9.30 Uhr bilden Männer der »Leibstandarte Adolf Hitler« einen dreifachen Ring um die Kroll-Oper, wo der Reichstag zusammentritt. Hitler erscheint in Wehrmachtsuniform. Seine Rede wird live im Rundfunk übertragen, doch sie ist keine seiner demagogischen Meisterleistungen.

5.45 statt 4.45 Uhr

Der »Führer« wirkt angestrengt, es gibt auch weniger Applaus als sonst. In Erinnerung bleibt vor allem ein Satz: »Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!« Tatsächlich hätte es 4.45 Uhr heißen müssen. Und von »zurückschießen« konnte keine Rede sein – die Aggressoren waren die Deutschen.

Wenn man sich diese Lügenpropaganda heute, 85 Jahre nach dem Überfall auf Polen, vor Augen führt, ergeben sich fast von selbst Assoziationen zu dem aktuellen Angriffskrieg in Europa, dem Krieg Russlands gegen die Ukraine.

Ähnlich wie Hitler 1939 vorgab, die deutsche Minderheit in Polen vor »polnischen Mörderbanden« schützen zu müssen, erklärte Präsident Wladimir Putin 2022 am Vorabend seines Angriffskriegs im Fernsehen, dass die Ukraine im Donbass im Osten des Landes einen »Genozid« am russischen Bevölkerungsteil verübe. Um das zu stoppen, müsse Russland militärisch eingreifen.

Verhüllende Sprachregelungen

»Je länger ich mich damit beschäftige, desto mehr Parallelen sehe ich«, sagt der Historiker und Buchautor Götz Aly, Experte für die NS-Diktatur und den Holocaust. Die für ihn naheliegendste Gemeinsamkeit sind verhüllende Sprachregelungen: Russland bezeichnet den Krieg gegen die Ukraine als »militärische Spezialoperation«, und wer sich nicht daran hält, hat schwere Strafen zu befürchten.

Ganz ähnlich war es in Nazi-Deutschland. Propagandaminister Joseph Goebbels verbot am 1. September 1939 in den Zeitungen und im Rundfunk sofort das Wort »Krieg«.

Begründung: »Nach der Rede des Führers schlagen wir nur zurück.« Die stattdessen vorgeschriebene Formel lautete: »Gegenangriff, der uns aufgezwungen wurde.« Oder: »Wir erwidern das Feuer des Feindes.« In den folgenden Tagen nannte man den Krieg auch »Strafaktion gegen Polen«. »Das ist schon sehr, sehr ähnlich«, meint Aly.

Terrorisieren und demoralisieren

Wie Hitler habe auch Putin von Anfang an darauf gesetzt, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren und dadurch langfristig zu demoralisieren. »Luftangriffe, um die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen, waren 1939 noch etwas völlig Neues«, ruft Aly in Erinnerung.

Die polnische Stadt Wielun war in den Morgenstunden des 1. September die erste, die aus der Luft bombardiert wurde. Nicht alle beteiligten Piloten taten dies völlig ungerührt.

Einer von ihnen, Otto Schmidt, berichtete später, was ihm in diesem Moment durch den Kopf gegangen sei: »Die Menschen, die wissen ja gar nicht, dass Krieg ist. Die sind von jetzt auf gleich vielleicht tot, und mit meinen Bomben vielleicht.« In der Tat waren die Kinder in Wielun mit dem Gedanken ins Bett gegangen, dass am nächsten Tag die Schule nach den Sommerferien wieder anfangen würde. Im Schlaf wurden sie davon überrascht, dass plötzlich Bomben vom Himmel fielen.

Hoher Sold

Putin lockt Soldaten mit einem vergleichsweise hohen Sold an die Front – das Gleiche taten die Nazis. »Die Wehrmachtssoldaten waren doppelt so hoch bezahlt wie britische und selbst US-amerikanische Soldaten«, sagt Aly der Deutschen Presse-Agentur. Hitler sei sich bewusst gewesen, dass die meisten Deutschen 1939 riesige Angst vor einem neuen Krieg gehabt hätten. Begeisterung stellte sich erst später ein, als 1940 der »Blitzsieg« über Frankreich errungen wurde.

Bei Kriegsbeginn dagegen war die vorherrschende Gefühlslage eine Mischung aus Skepsis und Sorge. Das Nazi-Regime versuchte deshalb, die Normalität möglichst aufrechtzuerhalten. Cafés, Restaurants und Bars blieben überfüllt wie eh und je, und am ersten Wochenende nach Kriegsbeginn fanden in Deutschland rund 200 Fußballspiele statt.

Als aber am Abend des 1. September in Berlin plötzlich die Luftschutzsirenen dröhnten - ein Fehlalarm, wie sich später herausstellte - drohte die Stimmung zu kippen: In Panik griffen die Leute nach ihren Gasmasken und eilten in die Bunker. »Wie werden die menschlichen Nerven das für längere Zeit aushalten?«, fragte sich US-Korrespondent William Shirer.

Land des Angreifers

Die Ukraine versucht derzeit gezielt, den Krieg auch in das Land des Angreifers zu tragen und dadurch Putin unter Druck zu setzen.
Für das NS-Regime sei der Krieg auch ein Mittel gewesen, seine korrupte Herrschaft zu sichern, sagt Aly.

Nur durch Aktionen nach außen habe es seine innere Stabilität bewahren können: »Hass, Feinderklärungen, kriegerische Zwänge und schließlich die Angst vor der Niederlage wurden die Mittel, um das eigene Volk gefügig zu halten, ungefragt zusammenzuschweißen.«

Ähnliches gelte für Putin, der den Krieg zu einem Verteidigungskampf gegen den ganzen Westen stilisiere. »Das ist ein Zeichen von Schwäche, das hat nichts Souveränes. Vielmehr sollen damit der mangelhafte soziale Fortschritt, der Mangel an innerer Freiheit kaschiert und der innenpolitischen Willkür größere Spielräume eröffnet werden.«

Auffallende Defizite

Im direkten Vergleich zur Ukraine, die sich in den Jahren vor dem Angriff immer mehr in Richtung Westen orientierte und schon damals eine EU-Mitgliedschaft anstrebte, fallen diese Defizite umso mehr auf.

Aly ist überzeugt: »Wenn Putin in der Ukraine nicht gestoppt wird, wird er sofort in Moldawien oder im Baltikum weitermachen. Da kann man die Uhr danach stellen. Deshalb ist es zwingend zu sagen und dementsprechend zu handeln: Bis hierhin und keinen Schritt weiter.«

Sicherlich darf man den Vergleich zwischen damals und heute nicht überstrapazieren. So haben die von Hitler begangenen Verbrechen eine völlig andere Dimension als alle Taten, die dem vom Internationalen Strafgerichtshof mit Haftbefehl gesuchten Putin angelastet werden. Davon abgesehen, findet der Historiker und Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preisträger Jörn Leonhard Parallelen zwischen dem Überfall auf Polen und dem Angriff auf die Ukraine eher verzerrend.

Unterschiedliche Motive

So seien die Motive Hitlers und Putins sehr unterschiedlich, sagt der Buchautor (»Über Kriege und wie man sie beendet«) der dpa: 1939 habe sich eine lange deutsche Tradition negativer Politik gegenüber Polen mit Hitlers rassistischem Konzept von deutschem »Lebensraum« im Osten verbunden. »Im Falle von Putins Aggressionskrieg gegen die Ukraine geht es dagegen sehr stark um die Wirkung postimperialer Politik.«

Der Verlust des Sowjetimperiums habe nicht nur bei Putin, sondern bei vielen Russen eine Art von Phantomschmerz hinterlassen. Dazu komme die Vorstellung, dass Russland in der heutigen Welt eine besondere Mission habe: »Es versteht sich als traditionelles Bollwerk gegen die freiheitlichen Werte des Westens, die Putin für überholt und dekadent hält.«

Unterm Strich seien das schon sehr verschiedene Motivationslagen.
Zwar räumt Leonhard ein, dass sowohl Hitler als auch Putin fälschlich vorgegeben hätten, aus einer Bedrohungslage heraus gehandelt zu haben. Aber daraus könne man schwerlich ein starkes Argument ableiten: »Das ist so alt wie der Krieg selbst.«

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