Eigentlich müsste die Forderung selbstverständlich sein: Twitter sollte sich an die eigenen Regeln halten. Das aber tue das soziale Medium bei antisemitischen und volksverhetzenden Inhalten viel zu selten, meinen nicht nur die European Union of Jewish Students (EUJS) und die Organisation HateAid.
Sie ziehen jetzt gegen Twitter vor Gericht, um den Plattformbetreiber zu zwingen, wenigstens seine hauseigenen Richtlinien für den Umgang mit Hass-Posts einzuhalten. Damit, so hoffen sie, soll ein Präzedenzfall in der Prävention von Hass im Internet geschaffen werden.
vernichtungsfantasien Gegenstand der Zivilklage sind sechs Tweets aus den vergangenen Monaten, in denen die Schoa geleugnet, gegen Juden gehetzt und Vernichtungsfantasien gegen ganze Bevölkerungsgruppen geäußert werden. Trotz Meldung hat Twitter nach Aussage der drei Organisationen die Beiträge nicht gelöscht.
In einem Fall wurde die Forderung nach Löschung sogar ausdrücklich zurückgewiesen, so die Kläger. Und das, obwohl die Posts nicht nur nach deutschem Recht gegen das Gesetz verstießen, sondern auch gegen die Richtlinien, die sich Twitter selbst auferlegt habe. Darin wird nämlich nicht nur die Verherrlichung von Gewalt untersagt, sondern auch explizit die Leugnung des Holocaust.
»Wir wollen gerichtlich feststellen lassen, ob Nutzer gegenüber Twitter auf Einhaltung der eigenen Geschäftsbedingungen bestehen können«, erläutert der Rechtsanwalt Torben Düsing das Ziel der Klage. Bisher gebe es für Nutzer, die nicht unmittelbar Geschädigte sind, keine Möglichkeit, Internet-Plattformen dazu zu zwingen, untersagte Inhalte zu löschen.
aufsichtsbehörden Auch die Aufsichtsbehörden blieben weitgehend untätig, so Düsing bei einer Pressekonferenz in Berlin vergangene Woche. »Die sozialen Netzwerke verlassen sich darauf, dass es keine Konsequenzen gibt.« Die Klage wurde Ende Januar beim Landgericht Berlin eingereicht. Düsing hofft, dass die Richter bis Jahresende entscheiden werden.
Es soll ein Präzedenzfall in der Prävention von Hass im Internet geschaffen werden.
Was auf dem Spiel steht, beschreibt EUJS-Präsidentin Avital Grinberg so: »Wenn Jüdinnen und Juden durch Antisemitismus und digitale Gewalt aus dem Netz verdrängt werden, wird jüdisches Leben an einem gesellschaftlich relevanten Ort unsichtbar.« Twitter verletze durch seine laxe Löschungspraxis die Pflicht, jüdische Nutzer vor Antisemitismus zu schützen. Damit fördere die Plattform letztlich auch Hass und Gewalt in der realen Welt, so Grinberg.
Der von ihr seit dem vergangenen Jahr geführte Dachverband EUJS vertritt 36 nationale jüdische Studierendenvereinigungen. »Diese Klage ist die Antwort resilienter Jüdinnen und Juden auf das Versagen von Twitter und der Politik«, betont Grinberg im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen.
eindämmung Sollte das Verfahren erfolgreich sein, wäre das ein »Gamechanger« für die Eindämmung von Hass im Internet, glaubt die Publizistin und Netzaktivistin Marina Weisband, die die Pressekonferenz moderierte. Das Vorgehen von HateAid und EUJS könne Social-Media-Nutzern künftig als Blaupause dienen, um Plattform-Betreiber zur Löschung volksverhetzender und antisemitischer Beiträge zu zwingen.
»Mit diesem Fall wird ein Stück weit juristisches Neuland betreten«, sagt Experte Chan-jo Jun.
Josephine Ballon von HateAid bemängelt Twitters Intransparenz im Umgang mit problematischen Inhalten. »Das Löschverhalten von Twitter ist willkürlich«, findet sie. Seit der Übernahme von Twitter durch Elon Musk Ende vergangenen Jahres habe sich das noch einmal verschlimmert, so der Eindruck der Juristin. Das müsse sich endlich ändern.
»Twitter schuldet uns eine Kommunikationsplattform, auf der wir uns frei und ohne Angst vor Hass und Hetze bewegen können«, sagt Ballon. Ihre Organisation HateAid unterstützt und berät Betroffene von Hass im Internet. Im Rahmen des Programms »Landecker Digital Justice Movement« der Alfred Landecker Stiftung finanziert die gemeinnützige GmbH auch Grundsatzverfahren gegen Plattformbetreiber.
Auch der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, meldete sich zu Wort. »Jeder Nutzer von Social Media muss vor Hass, Hetze und Schoa-Leugnung geschützt sein«, erklärte Schuster in einer Pressemitteilung. »Die Plattformbetreiber müssen ihren vertraglichen Verpflichtungen nachkommen.« Das nun mit einer Zivilklage erzwingen zu wollen, sei »ein notwendiger Schritt im Kampf gegen ›Hate Speech‹«, so Schuster.
ansprüche Der Würzburger Rechtsanwalt Chan-jo Jun, der bereits mehrere Klagen gegen Facebook und Twitter erfolgreich durchgefochten hat, hält den Ausgang des Verfahrens für offen. »Mit diesem Fall wird ein Stück weit juristisches Neuland betreten. Es gibt zwar schon Urteile, die sich mit der Frage befassen, ob Nutzer sozialer Netzwerke aus den Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) vertragsrechtliche Ansprüche gegenüber den Plattformbetreibern geltend machen können. Der Bundesgerichtshof hat das grundsätzlich bejaht.«
Klar sei auch, dass deutsches und europäisches Recht Anwendung finde. Aber, so fügt Jun hinzu: »Leider sind viele AGB so abgefasst, dass sie nur die Rechte der Plattformbetreiber herausstellen, nicht aber deren Pflichten. Ob es einen Rechtsanspruch auf die Entfernung von Inhalten gibt, die gegen die Richtlinien der Plattformbetreiber verstoßen, muss dieses Verfahren jetzt zeigen. Ich freue mich jedenfalls, dass HateAid diese Klage gegen Twitter unterstützt und so das finanzielle Risiko abmildern hilft«, so Jun gegenüber der Jüdischen Allgemeinen.