Meinung

Twitter und das große Versagen

Erfolg für Michael Blume: Das Landgericht Frankfurt hat auf Antrag des Antisemitismusbeauftragten von Baden-Württemberg eine einstweilige Verfügung erlassen, wonach Twitter »falsche oder ehrverletzende Tweets« löschen muss. Foto: Chris Hartung

Würde die Welt in einem Jahr untergehen, müssten wir uns um den Klimawandel keine Sorgen mehr machen. Das gilt auch für jene Veränderungen in der Gesellschaft, die durch Hass, Rassismus und Antisemitismus in sozialen Medien allmählich, aber irreversibel verursacht werden.

In beiden Problembereichen ist die Bekämpfung jedoch aufwendig und die Versuchung groß, erst einmal abzuwarten, ob sich das Problem nicht von selbst regelt, nicht so schlimm ist oder vielleicht später mit neuen Ideen noch genauso gut gelöst werden kann. Diese Untätigkeit ist tödlich.

bedürfnis Wir Menschen haben das fatale Bedürfnis, allmählich wirkende Gefahren abzutun, da die Bekämpfung anders als bei einer konkreten Katastrophenhilfe keinen sofort sichtbaren Nutzen mit sich bringt. So haben wir uns damit eingerichtet, die schädlichen Wirkungen von sozialen Medien ungehindert laufen zu lassen, da deren Begrenzung in Form von staatlicher Regulierung höchst unpopulär ist.

Der Staat muss Regeln nicht nur beschließen, sondern auch umsetzen.

Als Elton John Anfang des Monats seinen Rückzug von Twitter mit den grassierenden Falschinformationen und Hetze begründete, erschien mir das völlig plausibel. Die amerikanischen Twitter-User sahen das aber anders und bestraften den Sänger mit hämischer Verachtung. Offenbar sei der 75-jährige Rock-Titan ein Feind der Meinungsfreiheit und Anhänger der Zensur. So funktioniert Framing: Wer gegen Hass und Hetze eintritt, muss Anhänger eines totalitären Staates oder selbst Rassist und Antisemit sein.

Als der selbst ernannte »Free Speech Absolutist« Elon Musk Twitter übernahm, verkündete er die Mission, jegliche Beschränkungen der Redefreiheit auf Twitter einzuschränken. Doch als einige User anfingen, ihre für acht Dollar erkauften, mit blauen Haken versehenen Accounts in »Elon Musk« umzubenennen, verstand er keinen Spaß mehr und belegte die Betreffenden mit einer dauerhaften Sperre. Auch die Accounts amerikanischer Journalisten, die sich kritisch mit seinem Wirken bei Twitter auseinandergesetzt hatten, wurden plötzlich von Twitter gesperrt.

Das ist typisch nicht nur für Musk: Viele, die freie Rede einfordern, verlangen diese typischerweise nur für ihre eigene Meinung, bekämpfen aber abweichende Auffassungen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Und Elon Musk hat viele Mittel, selbst wenn er sich nun als Twitter-CEO zurückziehen sollte.

SICHERHEIT In einer idealen Welt bräuchten wir natürlich keine Regeln und hätten trotzdem Freiheit und Sicherheit. Die ideale Welt erreichen wir aber nicht dadurch, dass wir die Regeln abschaffen oder sie uns zurechtbiegen. Damit erreichen wir eher das Gegenteil. Überall dort, wo sich nicht das Recht des Stärkeren und des Skrupelloseren durchsetzt, brauchen wir kluge Regeln des Staates. Und die müssen nicht nur beschlossen, sondern auch umgesetzt werden.

Als ich als naiver Jurastudent zum ersten Mal die Strafbarkeit der Holocaustleugnung im Gesetz las, erschien mir die Regelung zunächst überflüssig. Wer leugnet und verharmlost denn schon die Nazi-Gräueltaten? Als Querdenker am Holocaust-Mahnmal standen und Judensterne mit der Aufschrift »Ungeimpft« trugen, war die deutsche Justiz herausgefordert. Dieser krude Vergleich galt zunächst nicht als eine Verharmlosung des Holocaust, sondern nur als Dramatisierung angeblich schädlicher Impfungen.

Erst allmählich begannen einzelne Staatsanwaltschaften, dies als Straftat zu verfolgen. Das dauerte jedoch. Währenddessen bauten die Täter ihr Narrativ immer weiter aus, montierten die Aufschrift »Impfen macht frei« auf KZ-Bilder und stellten sich auf eine Stufe mit verfolgten Juden.

Gleichzeitig kursierten im Netz altbekannte Verschwörungsmythen über eine angebliche jüdische Finanzelite, die zur Ausrottung der Menschheit Impfstoffe einsetzte und Kinder für Verjüngungsmittel tötete. Die Plattformbetreiber winkten diese Inhalte durch, sie störten sie nicht.

verleumdung Als über Michael Blume, den Antisemitismusbeauftragten des Landes Baden-Württemberg, frei erfundene Lügengeschichten verbreitet wurden und die Behauptung in den Raum gestellt wurde, er hätte einen Seitensprung mit einer minderjährigen Asiatin begangen, war dies eine eindeutige strafbare Verleumdung.

Twitter weigerte sich jedoch, dagegen vorzugehen, die Inhalte zu entfernen oder weitere Störungen zu unterbinden. Erst als sich Twitter an der großen Zahl identischer Tweets störte, wurde der betreffende Account vorübergehend gesperrt, kurze Zeit später aber wieder freigegeben. Die verleumderischen Inhalte kamen so erneut ans Tageslicht.

»Wenn sich Betroffene von Hass und Hetze gar nicht wehren können, weil niemand sie anhört, ist der Rechtsstaat am Ende.«

Chan-jo Jun

Gerichte könnten die Fehler der Plattformbetreiber korrigieren, also sei doch alles gut, behaupten einige. Das ist mitnichten so: Blume musste monatelang gegen Twitters Armee von Anwälten ankämpfen, während gleichzeitig immer neue Lügen lanciert wurden. Erst vergangene Woche entschied das Landgericht Frankfurt in einem Eilverfahren, dass Twitter verpflichtet ist, diese falschen und ehrenrührigen Behauptungen zu entfernen.

meinungsbildung Die Richterin urteilte auch, dass die Bezeichnung Blumes als »Antisemit« zwar grundsätzlich eine Meinungsäußerung, sie aber jedenfalls in dem vorliegenden Zusammenhang rechtswidrig sei, da sie nicht zur öffentlichen Meinungsbildung beitrage und erkennbar darauf abziele, Stimmung gegen den Antisemitismusbeauftragten zu machen.

Das Besondere an dem Urteil: Nicht nur einzelne Hass-Posts müssen von Twitter gelöscht werden. Auch kerngleiche, also sinngemäß identische Tweets, die von anderen Nutzern auf der Plattform geäußert werden und einen »identischen Äußerungskern« aufweisen, müssen fortan von Twitter gelöscht werden.

Das Frankfurter Urteil veranschaulicht einmal mehr das systematische Versagen von Twitter und Facebook bei der Content-Moderation. Es sollte auch der Politik längst aufgefallen sein. Dennoch hat das Bundesamt für Justiz seit Einführung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) 2017 bislang keine Veranlassung gesehen, gegen die Plattformbetreiber deshalb ein Bußgeld zu verhängen. Justizminister Marco Buschmann hat sogar in ein Stillhalteabkommen eingewilligt, demzufolge Twitter vom Bundesamt trotz des fehlenden Gegenvorstellungsverfahrens vorerst keine Bußgelder nach dem NetzDG aufgebrummt werden, obwohl die Plattform ihre gesetzlichen Pflichten offenkundig ignoriert.

Twitter hat seine Anstrengungen zur Einhaltung von Gesetzen in den letzten Jahren nicht nur nicht erfüllt, es hat sie sogar zurückgefahren. Das neue Management unter Elon Musk – so er denn Chef des Unternehmens bleibt – verspricht, diesen Kurs fortzusetzen. Die menschliche Content-Moderation sei ein Fehler gewesen, sagte kürzlich eine Vertreterin des Unternehmens.

werbeeinnahmen Gesetze sind jedoch wirkungslos, wenn große Plattformen wie Twitter und Facebook deutsches und europäisches Recht schlichtweg ignorieren, weil es ihre Werbeeinnahmen beeinträchtigt oder der politischen Überzeugung ihrer Inhaber widerspricht.

Verleumdungen kann man nicht per Algorithmus, sondern nur durch aufwendige Anhörungen erkennen.

Und Verleumdungen kann man nicht per Algorithmus, sondern nur durch aufwendige Anhörungen erkennen. Genau deswegen wurde ja der Paragraf 3b (das Gegenvorstellungsverfahren) erst in das NetzDG aufgenommen. Er führt eine Anhörungspflicht der Betroffenen ein.

Wörtlich heißt es in dem Gesetz: »Der Anbieter eines sozialen Netzwerks muss ein wirksames und transparentes Verfahren (…) vorhalten, mit dem sowohl der Beschwerdeführer als auch der Nutzer (…) eine Überprüfung einer zu einer Beschwerde über rechtswidrige Inhalte getroffenen Entscheidung über die Entfernung oder die Sperrung des Zugangs zu einem Inhalt herbeiführen kann.«

Diesen Aufwand möchte sich Twitter gern ersparen, denn er kostet das Unternehmen Geld. Aber wenn sich Betroffene von Hass und Hetze gar nicht wehren können, weil niemand sie anhört, ist der Rechtsstaat am Ende. Er sollte deshalb hart bleiben und Twitters bequemliche Haltung entschieden zurückweisen.

Der Autor ist Rechtsanwalt in Würzburg und hat den baden-württembergischen Antisemitismusbeauftragten Michael Blume kürzlich in einem Verfahren gegen Twitter vor dem Landgericht Frankfurt am Main vertreten.

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