Am Sonntag findet wieder der Mitzvah Day statt. Zahlreiche jüdische Gemeinden und Organisationen werden sich erfreulicherweise daran beteiligen. Die Initiative agiert international und wächst kontinuierlich. Zuletzt waren rund 40.000 Menschen in 22 Ländern aktiv.
Eine tolle Idee, wie ich finde, so ein weltweiter gemeinsamer Tag der guten Tat. Denn dies ist die deutsche Übersetzung von Mizwa: gute Tat. Zwei kurze Worte mit einer wahrlich großen Botschaft dahinter. Und eben auch eine der fundamentalen Grundlagen des Judentums. Tikkun Olam, Zedaka, Mizwa, also Verantwortung für unsere Welt, Wohltätigkeit und die gute Tat – all das steht für das, was wir jüdische Menschen aktiv für unsere Mitmenschen und Umwelt tun können. Oder besser gesagt: tun sollen.
kernkompetenz Auf Neudeutsch würde man sagen: Gutes zu tun, an andere zu denken, sie am eigenen Guten teilhaben zu lassen und sich dafür zu engagieren, dass die Welt nicht aus den Fugen gerät, wird uns als Kernkompetenz auf den jüdischen Weg mitgegeben.
Der amerikanische Rabbiner Shmuly Yanklowitz fasst es in einem Satz perfekt zusammen: Judentum ist nicht nur etwas für die Synagoge, sondern lebt eigentlich durch und von der – möglichst guten – Tat. Es bedarf einer spirituellen Relevanz in unserem Alltag, die wir durch eigene Aktivitäten und gute Taten erreichen können. Beschäftige dich mit G’tt und beschäftige dich mit der Welt. Geh zum Beten in die Synagoge und anschließend wieder hinaus ins wahre Leben. Und pack dort an. Gib dich nicht zufrieden mit dem, was ist, sondern bemüh dich darum, es besser zu machen.
Mizwa als eine solche zu verstehen, setzt einen Wechsel des Blickwinkels voraus. Von innen nach außen anstatt von außen nach innen. Was kann ich anderen Positives geben, anstatt mich zu fragen, was man denn für mich tut. Oder welchen Vorteil ich davon hätte. »Nur eine jüdische Identität, die von innen kommt, kann positiv sein. Diese Identität wirkt dann von innen nach außen statt umgekehrt. Deren Medium sind jüdische Handlungen. (…) Jeder Jude, der eine noch so kleine Mizwa erfüllt, geht diesen Weg«, beschreibt es der Frankfurter Rabbiner Andrew Aryeh Steiman.
krux Es scheint recht simpel zu sein. Unabhängig davon, wie religiös man ist, bewegt man sich auf den richtigen jüdischen Pfaden, wenn man eine Mizwa tut. Aber vielleicht liegt genau darin auch die Krux des Ganzen. Denn wir müssen uns wohl oder übel eingestehen: Die meisten von uns gehen eher selten in die Synagoge. Und die tägliche bewusste Mizwa leisten wohl auch nur die wenigsten von uns. Sind wir uns überhaupt bewusst, was Mizwa mit uns macht, wenn wir sie leisten? Denken wir darüber nach und gehen sie aktiv an?
Ich muss ehrlich gestehen, wenn ich morgens aufwache, gehen mir viele Gedanken durch den Kopf. Was erwartet mich im Büro, welche Termine habe ich, und was steht sonst noch auf dem Programm? Mich vor den Spiegel zu stellen und mich selbst zu fragen, was kann ich heute Gutes tun, kommt mir in der Regel nicht in den Sinn. So zu denken, bedeutet in gewisser Weise auch, aus seiner Komfortzone herauszukommen. Es ist Platz für mehr. Ich weiß – aber. Ich könnte – aber. Ich sollte – aber.
Wer von uns kennt das nicht, diese häufige Diskrepanz zwischen dem, was man tun könnte oder sollte, und dem, was man tatsächlich davon umsetzt. Im Kleinen wie im Großen. Häufiger meine Großmutter im Elternheim besuchen und häufiger meine Eltern anrufen, um sie zu fragen, ob es ihnen gut geht oder ob sie etwas benötigen. Vielleicht eine Patenschaft für ein bedürftiges Kind übernehmen. Sich stärker ehrenamtlich zum Wohle der Gemeinde engagieren. Mehr das Wir als das Ich in den Mittelpunkt stellen.
zukunft Sich sehr viel stärker ins Bewusstsein rufen, es reicht nicht aus, zu wissen, wir sind ein Volk. Sondern dass es des aktiven Rats und vieler Taten bedarf, um unserer jüdischen Gemeinschaft eine gesicherte Zukunft zu ermöglichen. Über den jüdischen Tellerrand hinausblicken. Aus dem jüdischen Konzept und den Erfahrungen unserer leidvollen Geschichte heraus denjenigen die Hand reichen und eine Stimme verleihen, die es heute dringend nötig haben. Eben von innen nach außen wirken.
Genau dieser Status quo gibt dem jährlichen internationalen Mitzvah Day seine Berechtigung und immense Bedeutung. Er ruft uns Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt unsere jüdische Identität ins Bewusstsein, die durch jüdisches Denken und Handeln entsteht. Und der Mitzvah Day animiert beziehungsweise motiviert uns dazu, dem Denken auch Taten folgen zu lassen. Etwas Mizwa braucht der Mensch. An dieser Stelle könnte man jetzt Tora oder Talmud zitieren. Ich entscheide mich für Erich Kästner: »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.«
Der Autor ist Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden Nordrhein.