Nur eine einzige Minute Stille für 40 Jahre Trauer – ist das denn zu viel verlangt? Wenn es nach dem Internationalen Olympischen Komitee geht, anscheinend ja.
2012 gibt es einen abgrundtief traurigen olympischen Jahrestag: Zum 40. Mal jährt sich das brutale Attentat auf die israelischen Sportler von 1972. Bei den Olympischen Sommerspielen in München überfielen palästinensische Terroristen der Gruppe »Schwarzer September« das israelische Sportlerquartier, nahmen die Athleten und Betreuer als Geiseln, schließlich wurden elf Menschen getötet. Elf Menschen, die nach München kamen, um den Sportgeist zu leben, das Miteinander zu zelebrieren – über nationale und religiöse Grenzen hinweg. Politik sollte keine Rolle spielen im Lichte des olympischen »Spirit«, unbeschwerte, »fröhliche« Spiele sollten es werden – dies war wohl etwas zu gutgläubig angesichts der schon damals bedrohten Lage Israels.
Aber wer konnte diesen Wunsch der Sportler nicht nachvollziehen? Wer geprägt ist von Existenzangst, ständiger physischer Gefahr und psychischer Belastung, sehnt sich nach einem Ort, der zumindest temporär sichere Zuflucht zu geben verspricht. In diesem Falle: der Sport. Die fünf olympischen Ringe als vermeintlich sicheres Refugium – aber auch als Symbol der ausgestreckten Hand an die ganze Welt – mit diesem Gefühl von Zuversicht kamen die israelischen Olympioniken nach München, in die Stadt, die früher doch einmal als »Hauptstadt der Bewegung«, der Nazipartei, galt.
petition Die Petition der Witwe des damals ermordeten Fechttrainers André Spitzer für eine Schweigeminute während der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele am 27. Juli in London, die von fast 25.000 Menschen unterschrieben wurde, ist nun vom IOC gefühlskalt und wortkarg abgelehnt worden. Dessen Präsident Jacques Rogge reagierte mit harter und unsensibler Gelassenheit. Nicht nur, dass er die Bitte nach einer Gedenkminute ablehnte, er erachtete es nicht einmal für nötig, diese Entscheidung zu begründen. Die Bezeichnung »respektlos« ist hier noch untertrieben.
Wieso aber fällt es denn eigentlich so schwer, dem tragischsten Moment der Olympia-Geschichte einen würdigen Platz zu verleihen? Einen Platz, der weder Zeit noch Geld kostet. Lediglich Herzenswärme und Mitgefühl. Ich möchte gar nicht erst daran denken, dass diese Entscheidung womöglich etwas damit zu tun haben könnte, dass dem IOC inzwischen so viele arabische und muslimische Länder angehören und hier deshalb in vorauseilender Feigheit sogar vor dem Gefühl, Trauer zeigen zu dürfen, zurückgeschreckt werden könnte. Oder: Ist jüdisches Blut etwa derart wertlos in den Augen der sportlichen Welt?
Nicht zu fassen auch: Die Sprecherin des IOC begründete die Ablehnung der Trauerminute unter anderem damit, dass das IOC bei einer Gedenkzeremonie anwesend sein würde, die die Israelis selbst veranstalten müssten. Wie großmütig das doch ist! Freilich: Die Israelis müssen schon selbst um ihre Opfer trauern, eventuell erweist dann das IOC einer solchen internen Trauerarbeit die Gnade seiner symbolischen Präsenz. Wie kalt, wie gefühlsbrutal kann man denn eigentlich sein? Nein: Diese Kälte ist nicht nur unsportlich – sie ist einfach un-
menschlich.
fehleinschätzung Denn gerade hier liegt doch der fundamentale Fehler, die unsägliche Fehleinschätzung: Es waren eben nicht »nur« israelische Opfer! Nein, es waren doch unser aller Opfer! Der Angriff auf die israelischen Sportler war ein Angriff auf uns alle, auf die Werte unserer freien Gesellschaft, auf den Geist der Friedfertigkeit, des Respekts und der Tradition der Liberalität einer jeden Olympiade. 1972 wurden mit dem Anschlag auf die Sportler, nur weil sie Israelis, nur weil sie Juden waren, diese Werte und Prinzipien bis ins Mark erschüttert. Die Trauer sollte daher eben gerade nicht nur auf Israelis und Juden weltweit beschränkt sein, sondern alle Menschen, die an Frieden und Demokratie glauben, einschließen.
Wir alle waren damals Israelis – das hätte eigentlich schon die Botschaft des damaligen IOC-Präsidenten Avery Brundage sein sollen. Sein schändliches Versäumnis könnte man nun durch diese Gedenkminute zumindest ein wenig mildern. Wenn auch spät, aber mit umso mehr Empathie. Zeigen, dass es uns alle angeht, wenn unschuldige Menschen ihrer Nationalität oder Religion wegen angegriffen werden. Dies zu zeigen, sollte auch Aufgabe des Sports sein und eine der Hauptbotschaften der Olympischen Spiele.
Doch noch nie wurde bei einer Eröffnungsfeier für einen Moment zum Erinnern an die israelischen Sportler innegehalten. Etwa aus Angst, dass die Zuschauer und Olympioniken den Wechsel zwischen Freude und kurzem Gedenken nicht verkraften? Oder vielleicht doch aus Scham, dass 1972 die Olympischen Spiele ganz rasch fortgesetzt wurden, fast so, als wäre gar nichts geschehen? Der Gedanke drängt sich auf, dass man diesen Tiefpunkt der olympischen Geschichte besser ignorieren möchte – ihn auslöschen will aus den Gedanken, aus der Geschichte. So, als würde dem bewussten Verschweigen der Vorzug gegeben gegenüber einem würdigen, gemeinsamen Schweigen.
Ehre Ist eine Schweigeminute angesichts dieser Tragödie, die die olympische Welt von Grund auf verändern sollte, denn tatsächlich zu viel verlangt? Sollte es nicht vielmehr eine Ehre sein, dieser Menschen, die für Toleranz, Freiheit und Völkerverständigung einstanden, zu gedenken, ihnen Tribut zu zollen? Wann, wenn nicht an solch einem Jahrestag? Wo, wenn nicht zu Beginn eines hoffentlich friedlichen und fröhlichen Sportereignisses? Gewiss möchte niemand als »Miesepeter« auftreten oder gar die heitere Stimmung verderben.
Aber dies würde durch eine Gedenkminute gar nicht passieren, ganz im Gegenteil – es wäre nicht nur ein mitfühlendes Zeichen für die Familien und Freunde der Opfer, sondern zugleich eine Nachricht an die Menschen, die der damaligen Hass-Ideologie noch heute anhängen: dass man gerade jetzt, trotz des gescheiterten Versuchs, die Olympiade in einen Ort von Fanatismus und Mord zu verwandeln, weiter an den »Olympia-Spirit«, das faire und respektvolle Miteinander, glaubt.
Aber der eisige und schnoddrige Umgang mit dem Olympia-Anschlag gehört leider inzwischen schon fast zur »guten« schlechten Tradition des IOC. Federführend war hier der 1972 amtierende IOC-Präsident Avery Brundage, der nach der brutalen Ermordung der Israelis schnell die Fortsetzung der Spiele beschloss. »The games must go on«, verkündete der Mann kalt, der schon bei den Olympischen Spielen von 1936 in München, von den Nazis als Propaganda für den Faschismus missbraucht, eine höchst unrühmliche und judenfeindliche Rolle gespielt hatte. Hat denn das IOC unter diesen Umständen nicht allen Grund, einen Mentalitätswechsel glaubhaft zu machen?
Herz Während damals die jüdischen Sportler ihre letzte Heimreise antraten, ein ganzes Land weinte – ich selbst weinte auch –, wurden salopp und lakonisch Sportler zu Siegern gekürt, weil ihr getöteter israelischer Kontrahent nicht antrat, genauer gesagt, wegen Ermordung leider nicht präsent sein konnte. Der tiefe Riss, der durch so viele jüdische Herzen ging, der Abgrund, der sich im Glauben an den »Spirit« der Olympischen Spiele, die Fairness und den Frieden des Sports auftat, wurde mit Füßen getreten.
Gerade deshalb wünschte ich mir, dass viele Menschen auch hierzulande diese doch mehr als berechtigte Bitte verstehen und unterstützen würden. Besonders der Deutsche Olympische Sportbund ist hier gefragt und sollte eigentlich an vorderster Stelle stehen, wenn es um den Wunsch nach einer Schweigeminute und einem würdigen Gedenken zu Ehren der Opfer am 40. Todestag geht. Mehr Engagement in dieser sensiblen Frage von deutscher Seite wäre gerade im Nachhinein mehr als angebracht. Denn vergessen haben wir nicht: Das damalige deutsche Nationale Olympische Komitee wurde seinerzeit der großen Aufgabe, angemessene, sensible und engagierte Empathie zu zeigen, in keiner Weise gerecht.
Und: Vergessen dürfen wir schließlich auch nicht, dass das Attentat nicht nur auf deutschem Boden stattfand, sondern dass zum tragischen Ausgang auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck nicht zuletzt auch die desaströsen Pannen und Verfehlungen der Zuständigen sowie der schiere Dilettantismus der Verantwortlichen entscheidend beitrugen. Es geht nun aber keineswegs etwa um Schuldzuweisungen – es geht um Respekt, um Würdigung und um das Zeichen: »Wir haben euch nicht vergessen.«
pflicht Wir alle dürfen dieses Verbrechen und Debakel wahrlich niemals vergessen. Die Erinnerung an die Morde des Olympia-Attentats von 1972 ist eine Pflicht für die gesamte olympische Welt – zumindest das sind wir den israelischen Sportlern schuldig. Ich kann nur hoffen, dass sich das IOC dieser Pflicht doch noch annehmen wird. Ich selbst werde so oder so eine Schweigeminute abhalten und hoffe, dass es viele Menschen hier und weltweit genauso tun werden.
Ich werde auch in Zukunft an diese elf Sportler denken, und das nicht nur eine Minute während der Eröffnungsfeier, sondern solange das olympische Feuer brennen mag. In diesem Feuer werde ich selbst immer zuerst die ewige Flamme des Gedenkens an jene Sportler sehen, die brutal in Deutschland ermordet wurden, nur weil sie Juden waren. Und ich werde immer den Schmerz mitfühlen, der in ihren Familien niemals vergehen wird.
Ankie Spitzer, die Witwe Andrés, schrieb, sie hoffe, dass ihr Ehemann und seine Teamkameraden durch die Schweigeminute den Respekt erhielten, den sie verdienen: »40 Jahre Warten ist lange genug.« Jede weitere Sekunde wäre eine Schande für die gesamte olympische Familie – und für uns alle.
Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.