Am 24. April 1915 wurden in Konstantinopel, der Hauptstadt des türkisch-osmanischen Reiches, über Nacht Lehrer, Ärzte, Journalisten, Abgeordnete und Bankiers verhaftet, sämtlich Armenier, eine Elite der christlichen Minderheit, 235 Personen, eine Zahl, die schnell auf das Zehnfache anschwoll und fast spurlos verschwand. Dies war der Auftakt zu einem bis dahin beispiellosen Menschheitsverbrechen.
Zur historischen Situation: Die Regierung des sogenannten jungtürkischen Triumvirats, Enver Pascha, Dschemal Pascha und Talaat Bey, war im November 1914 an der Seite des Deutschen Kaiserreiches gegen Russland, England und Frankreich in den Ersten Weltkrieg eingetreten. Nach schweren Pogromen gegen die Armenier schon 1894/96 und 1909 mit Zehntausenden Toten wurde nun zum finalen Schlag ausgeholt: zur Deportation aller Armenier im türkisch-osmanischen Reich.
Deportation Der Befehl dazu ergeht am 27. Mai 1915 durch den Innenminister Talaat Bey, mit der Begründung »Abwehr drohenden Verrats und Hilfe für den Feind« – ein Vorwand für die mörderischen Maßnahmen, die nun folgen sollten. Sie setzen in Ostanatolien, in der Schwarzmeer-Region und Kilikien, danach auch im Westen des Reiches Hunderttausende Armenier beiderlei Geschlechts und jeden Alters in Bewegung – eine Völkertragödie von bis dahin ungekanntem Ausmaß. In unübersehbaren Kolonnen werden die Deportierten mit meist nicht mehr als den Kleidern auf ihrem Leib über unwegsame Gebirge und reißende Flüsse den Wüsten Syriens und Mesopotamiens zugetrieben, wo aber nur ein kleiner Rest eintrifft. Die anderen werden unterwegs angefallen von Gendarmen, Soldaten, professionellen Räubern, von Kurden und ausdrücklich zu diesem Zweck freigelassenen Sträflingen, den sogenannten Tschetes. Die menschliche Fantasie reicht nicht aus, sich die Schreckensszenarien vorzustellen, die sich nun zwischen Trapezunt und Aleppo Monat um Monat abspielen – Massenexekutionen und Einzelmorde, Tod durch Pfählen, Häuten und Verbrennen bei lebendigem Leibe, Verschleppung in Harems. Der Rest sind die Wüstenlager Homs, Hama, Deres-Sor. Die Opferzahlen gehen bis zu anderthalb Millionen Armeniern.
Dieser Völkermord ist überwältigend dokumentiert – vom deutschen Bundesgenossen. Die Botschaft in Konstantinopel-Fers hat die Reichsregierung fast Tag um Tag bis in die letzten Einzelheiten unterrichtet, ein Protokoll des Grauens, akribisch aufbewahrt im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, Akte Türkei 183, Band 36 bis 46. Eine Lektüre, der sich niemand ohne Ruhepausen unterziehen kann. Auch optisch ist der Völkermord belegt – dank Armin T. Wegner, der als Sanitätsgefreiter im Stabe des deutschen Generalfeldmarschalls Colmar Freiherr von der Goltz auf dem Marsch quer durch das Deportationsgebiet unter Lebensgefahr zahlreiche Fotos gemacht hat. Aufnahmen, die sich nur noch mit denen nach der Befreiung der deutschen Konzentrationslager durch die Alliierten vergleichen lassen.
Mitverantwortung Der deutsche Bundesgenosse hat alles gewusst und hätte vieles verhindern können. Da, wo er eingriff, wie in Smyrna General Liman von Senders, Leiter der deutschen Militärmission, blieben die Armenier vor der Deportation bewahrt. So überwältigend, wie das deutsche Wissen um den Genozid ist, so überwältigend ist auch die Mitverantwortung an ihm. 90 Jahre lang haben alle Regierungen hierzulande darüber geschwiegen, bis sich der Bundestag am 15. Juli 2005 endlich mit einem Rundumschlag zur Mitschuld und Mitverantwortung des Deutschen Kaiserreichs bekannte, sich »tief vor den Opfern staatlicher Gewalt« verneigte und – das Wort »Völkermord« dabei vermied.
Wie es die Türkei seit 95 Jahren tut, eine versteinerte Lebenslüge, die sich durch den wachsenden äußeren Druck mühselig bequemt, von »tragischen Ereignissen« oder einem »gegenseitigen Massaker« zu faseln. Heute hat die organisierte Verdrängung einen Namen: Recep Tayyip Erdogan, Ministerpräsident der Türkei. »Es leben 100.000 Armenier in meinem Land, die nicht seine Bürger sind. Denen kann ich sagen, wenn es notwendig wäre: Los, zurück in euer Land, wo ihr herkommt.« So hat er jüngst gedroht, wenn von »Völkermord« (armenisch »Ageth«) gesprochen wird. Aber Erdogan, Herr der türkischen Leugnungsindustrie, muss eines wissen: Wie auch im- mer, wenn überhaupt, die Türkei Zutritt zur Europäischen Union erhalten wird, ob in Form einer Vollmitgliedschaft, einer »privilegierten Partnerschaft« oder eines dritten Modells: Der Weg dahin führt allein durch das Nadelöhr der offiziellen Anerkennung dieses Menschheitsverbrechens. Dazu kann und darf es keine Alternative geben.
Der Autor ist Schriftsteller (»Die Bertinis«) und Publizist. Am 24. April hält er in der Frankfurter Paulskirche die zentrale Gedenkrede aus Anlass des 95. Jahrestags des Völkermords an den Armeniern.