Mit einer »fulminanten« Veranstaltung sei die AfD in den Wahlkampf gestartet – dieses Zeugnis stellte sich die Partei in der vergangenen Woche im Hinblick auf ihre Auftaktveranstaltung in Schwerin selbst aus. Reporter und Journalisten beurteilten das Geschehen weniger berauschend. Von einer schleppenden Stimmung berichteten Medien. Von einer seltsamen Inszenierung des Spitzenkandidaten Tino Chrupalla, der bei der Ankunft in der Kluft eines Malermeisters aus dem Spitzenkandidaten-Bus stieg. Von einem Schild vor der Bühne mit dem Slogan »Liebe. Mutter, Vater, Kinder« – also das, was die AfD unter einer »normalen« Familie versteht.
Die Parole stand im Kontrast zu den Ausführungen von Spitzenkandidatin Alice Weidel, die in ihrer Rede über ihre eigene Familie sprach: »Ich wusste eben auch, dass es für mich nicht einfach werden würde«, sagte Weidel. »Gerade deshalb bin ich so stolz auf die Familie, die ich mir mit meiner Partnerin aufgebaut habe.«
wahlprogramm Gleichzeitig soll Weidel das Wahlprogramm ihrer Partei vertreten, in dem es heißt: »Die AfD bekennt sich zur Familie als Keimzelle unserer Gesellschaft. Sie besteht aus Vater, Mutter und Kindern.« Ein nicht aufzulösender Widerspruch. »Deutschland – aber normal« – so will die AfD bei der Wahl punkten. Es sei normal, den Lebensabend genießen zu können, heißt es beispielsweise im Kurzwahlprogramm. Oder dass ein Land seine Grenzen schütze. Auch mehr Netto vom Brutto sei normal.
Aktuell inszeniert sich die AfD vor allem als Anwältin der Freiheit und thematisiert die noch geltenden Grundrechtseinschränkungen wegen der Corona-Pandemie.
Solche Allgemeinplätze und der Wahlkampfauftakt in Schwerin machten deutlich: Der Partei fehlt ein zentrales und zündendes Thema, das Emotionen entfacht und polarisiert, das die Anhängerschaft empört und mobilisiert.
Aktuell inszeniert sich die AfD vor allem als Anwältin der Freiheit und thematisiert die noch geltenden Grundrechtseinschränkungen wegen der Corona-Pandemie – oder warnt vor einem neuen Lockdown. Ein Szenario, das derzeit eher unwahrscheinlich ist. Zudem zerfällt das von AfD-Politikern unterstützte »Querdenken«-Milieu zunehmend, diverse Aktivisten sind zerstritten oder radikalisieren sich rhetorisch, einige wähnen sich in einem »Dritten Weltkrieg«. Antisemitische Verschwörungslegenden und Holocaust-Vergleiche sind zentraler Teil dieser Bewegung.
Antisemitismus Die AfD thematisiert zwar oft Antisemitismus in muslimischen Communitys, bei antisemitischen Verschwörungsmythen und NS-Vergleichen hat sie aber einen blinden Fleck beziehungsweise verbreiten Funktionäre und Anhänger solche Inhalte sogar selbst. Ein weiterer Widerspruch, der sich nicht auflösen lässt.
Auch hier legte Alice Weidel beim Wahlkampfauftakt nach: Sie forderte »Stolz auf Deutschland«, »ein Deutschland, in dem wir einander nicht die Taten längst verstorbener Generationen vorwerfen, um daraus politischen Profit zu schlagen, sondern Gräben zuschütten«.
Inwieweit es sich im Hinblick auf Stimmen überhaupt lohnt, Impfskeptiker und -kritiker zu umwerben, ist eine weitere offene Frage im AfD-Wahlkampf. So gaben Anfang August 83 Prozent der Bundesbürger im ARD-DeutschlandTrend an, sich auf jeden Fall gegen das Coronavirus impfen zu lassen oder bereits zumindest einmal geimpft worden zu sein. Vier Prozent gaben an, sich wahrscheinlich impfen zu lassen. Zwölf Prozent der Wahlberechtigten wollen sich demnach wahrscheinlich nicht impfen lassen oder schließen eine Impfung für sich auf jeden Fall aus. Inwieweit es sich bei diesen Impfgegnern aber um AfD-Anhänger handelt, ist nicht klar.
Bei NS-Vergleichen und Verschwörungsmythen hat die AfD einen blinden Fleck.
Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, sieht einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen vergleichsweise niedrigen Impfquoten in den neuen Bundesländern und dem hohen Zuspruch für die AfD in diesen Regionen. »Es gibt zwischen der Zustimmung für die AfD und Impfablehnung einen klaren Zusammenhang«, sagte der CDU-Politiker der Funke Mediengruppe.
Allerdings sind die Statistiken über die Zahl der geimpften Personen offenkundig lückenhaft – und möglicherweise sind Millionen von Menschen bereits geimpft, die in den offiziellen Daten noch gar nicht auftauchen. Solche Unklarheiten lassen Annahmen über angebliche Korrelationen beziehungsweise monokausale Erklärungen noch gewagter erscheinen, als sie ohnehin schon sind.
Zudem werden viele Impfgegner eher einem alternativ-esoterischen Milieu zugerechnet, das nicht gerade als Stammwählerschaft der AfD gilt.
STAMMWÄHLERSCHAFT Aktuelle Umfragen messen für die AfD etwa zehn Prozent der Stimmen; offenkundig kann sie sich auf eine Stammwählerschaft verlassen, die sich von internen Querelen sowie inhaltlichen Widersprüchen nicht abschrecken lässt – und die kein Problem darin sieht, dass der Verfassungsschutz die AfD als rechtsextremen Verdachtsfall einstuft.
Auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, findet deutliche Worte für den Politikstil der Partei. Die Sprachkultur in den Parlamenten bis hin zum Bundestag habe sich durch die Anwesenheit dieser Partei massiv verändert, sagte er der »Berliner Zeitung«. Sie habe eine feindselige Stimmung angeheizt. Nach Einschätzung vieler Experten sei die AfD antisemitisch und rassistisch, führte Schuster aus. Beispiele seien der Ruf nach einer »erinnerungspolitischen Wende« oder die Aussage, dass das Holocaust-Mahnmal ein »Mahnmal der Schande« sei.
Neue Wählermilieus kann die AfD bislang nicht erreichen, ihre bisherigen Anhänger müssen erst einmal mobilisiert werden.
Neue Wählermilieus kann die AfD bislang nicht erreichen, ihre bisherigen Anhänger müssen erst einmal mobilisiert werden, hatte sie 2017 doch zwölf Prozent geholt. Damals konnte die AfD noch auf das Thema Flüchtlingspolitik setzen und sich an Kanzlerin Angela Merkel abarbeiten.
Doch nun ist die Situation komplexer: Armin Laschet, Olaf Scholz und Annalena Baerbock bewerben sich um die Merkel-Nachfolge – und obwohl sie bislang kaum hohe Popularitätswerte erreichen, kann die AfD nicht von deren Schwäche profitieren.
WIDERSPRUCH Angesichts dieser strategischen Probleme überraschte es kaum, dass die AfD am Sonntag, als die islamistischen Taliban in Afghanistan noch in die Hauptstadt Kabul vorrückten, bereits eine Pressemitteilung veröffentlichte, in der Weidel ein »Asylmoratorium« forderte. »Echten Flüchtlingen muss möglichst in ihrer Heimatregion geholfen werden«, so die Forderung.
Dass genau dies in Afghanistan gerade gescheitert war, weil unter anderem die USA und die Bundeswehr ihre Truppen abzogen – so wie es die AfD übrigens gefordert hatte –, ist der nächste offene Widerspruch in diesem Wahlkampf.