Fußball

Tora und Tore

Fußballgott? Thomas Müller beim WM-Viertelfinale gegen Argentinien am 3. Juli 2010 in Kapstadt/Südafrika Foto: imago

Ich muss gestehen, dass sich meine Sicht auf die angeblich schönste Nebensache der Welt geändert hat. Früher hatte ich mit Fußball nichts am Hut. Aber in den zehn Jahren, die ich jetzt bereits in Dortmund lebe, hat sich meine Einstellung gewandelt. Während ich früher darüber lachte, dass 22 erwachsene Männer 90 Minuten lang einem Ball hinterherlaufen, fasziniert mich das Spiel inzwischen.

Und ja, ich bin mittlerweile bekennender BVB-Anhänger. Wenn ich Zeit habe und ein Heimspiel der Borussia ausnahmsweise einmal nicht am Schabbat stattfindet, gehe ich gerne ins Stadion. Und selbstverständlich werde ich auch in den kommenden Wochen verfolgen, wie sich Durm, Hummels und die anderen Spieler in Brasilien schlagen werden.

erlösung Fußball ist ein faszinierender Sport – und hat eine Menge mit Religion zu tun. Das wird nicht nur deutlich, wenn Sportler vor dem Spiel oder nach einem Torerfolg demonstrativ beten. Es drückt sich auch in der Sprache aus, wenn davon die Rede ist, dass ein Spieltag für die Fangemeinde zum Feiertag geworden ist, weil das Tor in letzter Minute die »Erlösung« brachte.

Da wird dann auf den Rängen des »Fußballtempels« und unten auf dem heiligen Rasen gejubelt, die Reporter schwärmen vom »Fußballgott«. Und wer denkt nicht zurück an die WM 1954, als die deutsche Mannschaft das »Wunder von Bern« wahr machte, oder an die WM 1986, als Superstar Diego Maradona das argentinische Team mit der »Hand Gottes« zum Titel führte?

Nicht nur Worte, auch manche Gesänge und Symbole erinnern stark an Religion. Kürzlich hörte ich den Satz, Religionen schafften Ordnung in Raum und Zeit, genau wie der organisierte Fußball. Es gibt sogar Menschen wie den israelischen Historiker Moshe Zimmermann, die meinen, Fußball sei auf dem Weg, die »größte Weltreligion« zu werden. Sport sei allerorten als Religion anerkannt. Für die klassischen monotheistischen Religionen stelle Fußball eine Herausforderung dar, denn sie hätten längst abgewirtschaftet, sagte Zimmermann unlängst im Deutschlandfunk. Da ist dem Professor, nicht nur weil er HSV-Fan ist, deutlich zu widersprechen!

existenz Auch kann ich denen nicht folgen, die allen Ernstes meinen, Fußball könne Religionsersatz sein. Kann er nicht. Sport bleibt Sport. Auch wenn mancher glaubt, ein Endspiel sei eine Sache auf Leben und Tod: Auf wirklich wichtige Fragen der Existenz hat Fußball keine Antworten. Unsere Chukim und Mischpatim sind besser für das Fair Play des Lebens geeignet als Abseitsregeln und FIFA-Statuten.

Dennoch bleibt die Frage, was die Faszination ausmacht. Ich habe jüngst einen Text gelesen, der versuchte, dieses Phänomen zu erklären. Was bringt Menschen dazu, Fußball beinahe wie Religion zu leben? Was veranlasst uns, am heimischen Fernseher jedes Spiel unserer Mannschaft verfolgen zu wollen, auch wenn das nur mit teuren TV-Abos möglich ist? Oder warum sind echte Fans bereit, auch bei Wind und Wetter ins Stadion zu gehen und bei Auswärtsspielen dem Team Hunderte oder Tausende Kilometer hinterherzureisen?

Der Autor des besagten Artikels vermutete, es sei der Wunsch, zu einer Gruppe, einem größeren Ganzen zu gehören. Das entspreche unserer Natur, vermittle Stolz. Und vor allem bedeute es Sicherheit. »You’ll never walk alone!«, heißt es in einer Fußballhymne. Diese Sätze aus dem Liverpooler Fangesang erinnern nicht zufällig an Worte aus dem Buch Ruth oder dem Prophetentext Jesaja. Wir sind nicht allein. Auch und schon gar nicht in der Synagoge.

gebet
Zwar kommen viele Juden am Schabbat regelmäßig zum Gebet – und noch viel mehr an den Feiertagen. Aber warum gehen so sehr viel mehr in den »Fußballtempel«? Kein Zweifel: Die Zeit im Stadion kann wunderbar sein. Aber sie ist eigentlich genauso gut wie das Eis oder die Wurst, die sich manche in der Halbzeitpause gönnen: Nach dem letzten Bissen haben sie nichts mehr in der Hand. Alles weg.

Das Stadionvergnügen füllt vielleicht meine Zeit, doch nicht mein Leben. Vor und nach dem Spiel bin ich eben doch der gleiche Mensch. Außer, dass ich möglicherweise ein paar neue unflätige Wörter gegenüber dem Schiri gelernt habe. In der Synagoge ist das anders. Sie bietet mir die Chance, mein Leben anders zu gestalten. Ich lerne und erhalte neue Werte. Ich verinnerliche Gebete und Lehren, die mir im Laufe meines Lebens helfen und meinen Weg erleuchten – in guten wie in schlechten Zeiten. Für Siege und für Niederlagen.

Alles hat seine Zeit. Auch ich verbringe meine Tage ab und zu im Stadion, um mich am Spiel zu erfreuen. Aber um mein Leben zu erfüllen, gehe ich in die Synagoge. Fußball ist eben kein Religionsersatz. Nichts für ungut, liebe Fußballfreunde! Ich drücke auf jeden Fall Jogi Löw und seiner Mannschaft fest die Daumen. Auch wenn ich Fan vom »Team Tora« bin und bleibe.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Dortmund.

Saba Farzan

Keine Geschäfte mit den Mullahs

Es ist nicht die alleinige Verantwortung der deutschen Unternehmen, aus dem Iran-Handel auszusteigen, sondern auch eine Pflicht der Politik, andere Märkte zu öffnen

von Saba Farzan  07.09.2024

Bayern

Anschlag von München: Ermittler geben bislang unbekannte Details bekannt

Nach dem mutmaßlichen Terroranschlag von München werden weitere Details bekannt - so war wohl nicht nur das israelische Konsulat sein Ziel

 06.09.2024

Baden-Württemberg

Angriff auf Touristin wegen Israel-T-Shirt: Mann in Haft 

In Heidelberg wird eine Touristin angegriffen. Auslöser soll ihr T-Shirt sein, schätzt die Polizei. Darauf fordert sie die Freilassung der israelischen Geiseln. Nun gibt es einen Verdächtigen

 06.09.2024

Islamismus

Schütze von München war laut Vater psychisch auffällig 

Wer war der junge bewaffnete Mann, der in München in einem Schusswechsel mit der Polizei starb? Jetzt spricht der Vater des Attentäters

 06.09.2024

Einspruch

Wer mordet, will keinen Deal

Philipp Peyman Engel erinnert daran, dass nicht die israelische Regierung, sondern die Hamas sechs israelische Geiseln umgebracht hat

von Philipp Peyman Engel  06.09.2024 Aktualisiert

Meinung

Palästina-Aktivisten sind keine Streiter für Kunstfreiheit

In Dortmund störten sie eine Veranstaltung, auf der ein Film über die Massaker der Hamas gezeigt werden sollte

von Stefan Laurin  06.09.2024

Meinung

Der Westen und die Palästinenser

Warum fließen weiter Milliarden an Hilfsgeldern, ohne dass sich etwas zum Besseren wendet, fragt sich unser Gastautor

von Jacques Abramowicz  06.09.2024

München

Schüsse aufs Konsulat: Bayern will Präventionskonzepte prüfen

Für eine Verschärfung des Sicherheitskonzepts des Münchner Oktoberfestes sieht Herrmann hingegen keinen Anlass

 06.09.2024

Potsdam/Berlin

Neue Stiftung für Ausbildung von Rabbinern nimmt Arbeit auf

Zentralratspräsident Schuster: »Die neue Ausbildung öffnet wichtige internationale Horizonte und Netzwerke innerhalb des liberalen und konservativen Judentums«

von Yvonne Jennerjahn  06.09.2024 Aktualisiert