Holocaust

»Tötungsraten zehn Mal höher als angenommen«

»Nie wieder!«: Friedhof und Mahnmal in Treblinka Foto: imago

Sie wurden mit Zügen deportiert, vergast oder von Mitgliedern der Einsatzgruppen erschossen: Die Nazis ermordeten im von Deutschland besetzten Polen bis Kriegsende 1945 fast die gesamte jüdische Bevölkerung. Allein von August bis Oktober 1942 töteten sie vor allem dort rund ein Viertel aller jüdischen Holocaust-Opfer: Eine neue Studie spricht von mehr als 1,47 Millionen der insgesamt sechs Millionen getöteten Juden.

Die Menschen wurden in diesem Zeitraum in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor, Treblinka und Auschwitz sowie durch die Einsatzgruppen ermordet, schreibt der Forscher Lewi Stone von der Universität Tel Aviv im Fachblatt »Science Advances«. Etwa 25 Prozent »der im Zweiten Weltkrieg innerhalb von sechs Jahren getöteten Juden wurden in einem intensiven 100-Tage-Schub von den Nazis ermordet«. Dabei zeigten sich »Tötungsraten mit extremen Ausschlägen, die ungefähr zehn Mal höher sind, als üblicherweise angenommen«.

Die Studie spricht von mehr als 1,47 Millionen getöteten Juden allein von August bis Oktober 1942.

Sowohl die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als auch der Nazi-Jäger Efraim Zuroff aus Jerusalem äußerten sich zurückhaltend zu der Studie. Das bisherige Verständnis des Prozesses ändere sich durch die neue Studie nicht grundlegend.

LAGER Innerhalb von 100 Tagen seien rund 1,1 Millionen Menschen in Belzec, Sobibor und Treblinka ermordet worden, schreibt Stone. Die Lager waren Teil der sogenannten Operation Reinhard – der systematischen Vernichtung aller Juden, die 1942 noch im von Deutschland besetzten Polen lebten. Die Menschen wurden mit Zügen der Deutschen Reichsbahn deportiert und direkt nach Ankunft in einem der Lager getötet.

Rund 302.000 Menschen seien durch Einsatzgruppen in der Ukraine und Südrussland erschossen worden. Etwa 91.400 Juden seien in dieser Zeit in Auschwitz getötet worden. In dem Zeitraum von 100 Tagen seien pro Monat letztlich rund 445.700 Menschen ermordet worden. Damit sei die Tötungsrate auch etwa viel höher als die, die üblicherweise für den Genozid in Ruanda 1994 angenommen wird, schreibt Stone. Dort gehe man von 243.300 Morden pro Monat aus.

Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem äußerte sich knapp zu der Studie.

Für seine Untersuchung hatte der Professor für mathematische Biologie nach eigenen Angaben vor allem Zahlen des Holocaust-Forschers Yitzhak Arad zu Deportationszügen ausgewertet. Danach seien mehr als 480 Züge der Deutschen Reichsbahn von 393 polnischen Städten und Ghettos zu den drei zentralen Todeslagern Belzec, Sobibor und Treblinka gefahren.

AUSCHWITZ Die Lager der Operation Reinhard hätten in den vergangenen Jahren wenig Beachtung gefunden, schreibt Stone. Dies liege vor allem daran, dass es im Gegensatz zum Konzentrationslager Auschwitz fast keine Überlebenden gegeben habe. »Detaillierte Aufzeichnungen der Tötungen existieren fast nicht aufgrund der strikten Geheimhaltung der Nazis rund um die Operation Reinhard.«

Die intensive Phase der Tötungen habe nach dem Befehl von Reichsführer Heinrich Himmler am 19. Juli 1942 zur Tötung grundsätzlich aller Juden im Generalgouvernement (GG) begonnen. Das GG war der Teil des besetzten Polens, den Deutschland nicht in sein Staatsgebiet eingliederte. Nach drei Monaten sei die Tötungsrate schlagartig gesunken, weil »bis Dezember 1942 nur noch wenige Juden im GG übrig waren«, schreibt Stone.

Es sei eine auf Daten basierende Herangehensweise an das Thema, sagt der Autor der Studie.

Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem äußerte sich knapp zu der Studie. »Auf der Basis von Gesprächen mit Historikern von Yad Vashem kann ich sagen, dass die hohe Rate von Morden an europäischen Juden in diesem Zeitraum seit Jahren bekannt ist«, sagte ein Sprecher. »Die neue Studie rechtfertigt jedoch weitere Untersuchungen.«

WAHRNEHMUNG Efraim Zuroff, Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem, äußerte sich zurückhaltend. »Es ist ein interessanter Fakt, aber es ist keine große Entdeckung, die unser bisheriges Verständnis oder unsere Wahrnehmung des ganzen Prozesses verändern würde«, sagte Zuroff. Es gehe nicht nur um Zahlen. Es gehe etwa um den Entscheidungsprozess. »Die Frage ist: Warum hat Hitler gesagt, dass die Juden ermordet werden müssen?«

Stone betonte dagegen, dass die hohen Zahlen von Toten in so kurzer Zeit etwa interessant seien für die Frage des Widerstandes. »Wie können Menschen Widerstandsgruppen innerhalb von drei Monaten organisieren? Es war ein durchdachter Plan, alle Juden im Generalgouvernement in der kürzest möglichen Zeit zu töten – selbst drei Monate waren zu lang.«

Es sei eine auf Daten basierende Herangehensweise an das Thema, sagte Stone. Der Forscher beschäftigt sich nach eigenen Angaben unter anderem mit mathematischen Modellen zur Verbreitung von Krankheiten in Bevölkerungsgruppen.

»Wenn wir das Ausmaß nicht in Zahlen beschreiben, werden wir vergessen, was passiert ist, es wird nicht aufgezeichnet werden«, sagte Stone. So lasse etwa die Aussage zu rund sechs Millionen getöteten Juden die Menschen mit einer »verwirrend großen« Zahl zurück, schreibt er, »die der menschliche Geist nur schwer nachvollziehen kann«.

Nahost

Was hat Israels Angriff auf den Iran gebracht?

Eine Analyse von Michael Wolffsohn

von Michael Wolffsohn  01.11.2024

Auswärtiges Amt

Deutsche sollen Iran verlassen, um Geiselhaft zu vermeiden

Nach der Hinrichtung von Djamshid Sharmahd findet ein Sprecher deutliche Worte

 01.11.2024

Pandemie-Aufarbeitung

Virologe Streeck vergleicht Corona-Ungeimpfte mit Juden

»Es wurden Schuldige gesucht, wie es bei der Pest mit den Juden gemacht wurde und bei HIV mit den Homosexuellen«, so Streeck

 01.11.2024

Deutschland

Außenministerin Baerbock schließt alle iranischen Generalkonsulate

Die Bundesregierung reagiert damit auf die Hinrichtung von Djamshid Sharmahd

 31.10.2024

Australien

Thom Yorke stellt Störer zu Rede

Der Konzertteilnehmer hatte den Sänger aufgefordert, sich zum Gaza-Krieg zu positionieren

 31.10.2024

Düsseldorf

Überraschender Wechsel: Löhrmann wird Beauftragte gegen Antisemitismus

Sie folgt auf Ex-Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, die im November 2018 als erste Antisemitismusbeauftragte von NRW ihr Amt antrat

von Andreas Otto  31.10.2024

Zeitz

Herausgerissene Stolpersteine werden Ende November ersetzt

Am 7. Oktober wurden sämtliche Stolpersteine in der sachsen-anhaltinischen Stadt herausgerissen und gestohlen

 31.10.2024

Meinung

Können Juden noch SPD wählen?

Nach dem antizionistischen Post von Aydan Özoğuz fordert David Rosenberg seine Partei auf, klare Konsequenzen zu ziehen

 30.10.2024

Libanon

Hisbollah-Chef angeblich offen für Kriegsende

Naim Kassim sei unter den richtigen Bedingungen bereit für Frieden. Welche das sind, verrät er nicht

 30.10.2024