Zurzeit macht in Amerika ein Buch Furore, das nun auch auf Deutsch herausgekommen ist und ebenfalls heftig debattiert wird. In der Übersetzung trägt es den zahmen Titel Die Mutter des Erfolgs, im Original Battle Hymn of the Tiger Mother (Schlachtgesang der chinesischen Tigermama). Amy Chua schildert in diesem Buch, wie sie ihre beiden Töchter Sophia und Lulu durch harten Drill dazu bringt, immer nur mit guten Noten nach Hause zu kommen und so gut Klavier und Violine zu spielen, dass sie in einem vollen Konzertsaal auftreten. Ihre Erziehungsmethoden beinhalten: ein dreijähriges Mädchen draußen in der Kälte stehen lassen, der Tochter stundenlang den Gang aufs Klo verweigern, bis ein Musikstück perfekt sitzt. Ferner auch die Drohung, Stofftiere zu verbrennen. Wer jetzt glaubt, die Dame – eine Amerikanerin chinesischer Herkunft – habe vielleicht nicht mehr alle Stäbchen in der Reisschale, der könnte recht haben. Ihr Buch sollte besser den Untertitel tragen: »Die feine Kunst der gehobenen Kindesmisshandlung«. Aber was hat das Ganze mit Juden zu tun?
sushi Nun, Amy Chua ist mit einem Juden verheiratet. Und ihr Mann – ein anerkannter Hochschullehrer wie sie selbst – stimmte zu, ihr bei der Erziehung freie Hand zu lassen. Im Ausgleich dafür sollten die Töchter dann in der jüdischen Tradition aufwachsen. Allerdings scheint der Gatte seinen Teil des Vertrags nicht eingehalten zu haben. Dieser Eindruck ist jedenfalls kaum von der Hand zu weisen, wenn man liest, was Amy Chua bei einem Empfang zu Ehren eines Auftritts ihrer Töchter in der ehrwürdigen Carnegie Hall so alles auftischen ließ: »Sushi, Krabbenkuchen, chinesische Klöße« – die traditionell mit Schweinernem gefüllt sind –, »ein Büffet mit rohen Austern und geeiste Silberschüsseln voller Riesenkrabben«. Mjamm! Will sagen, trejfer geht’s nicht.
Allerdings war nicht diese unkoschere Speisefolge der Grund, warum die chinesische Tigermama im Wall Street Journal von Ayelet Waldman, einer jüdischen Mutter, angegriffen wurde. Waldman gehört zu den berühmteren Leuten im amerikanischen Kulturbetrieb, nicht nur, weil sie mit dem Schriftsteller Michael Chabon verheiratet ist, sondern auch, weil sie selbst Krimis geschrieben hat – und einen umstrittenen autobiografischen Essay mit dem Titel: Böse Mütter. Ihre vier Kinder, so führt sie jetzt aus, hatten die Freiheit, keine Klavier- und Violinstunden zu nehmen. Sie durften bei Freunden übernachten, brachten nicht nur Einsen nach Hause und saßen gelegentlich am Computer, um »World of Warcraft« zu spielen.
Allerdings ist Waldman der Tigermama dann doch irgendwie dankbar. Ein Vorabdruck ihres martialischen »Schlachtgesangs« habe ihre Töchter bewogen, einen Blick in eine Zeitung zu werfen – zum ersten Mal in ihrem Leben! Den Rest des Tages hätten ihre Sprösslinge damit zugebracht, sich exquisite Schimpfnamen für die chinesische Mutter zurechtzulegen. Dann erzählt Waldman etwas, das den »Was-meine-Kinder-nicht-umbringt-macht-sie-härter«-Anekdoten von Amy Chua diametral entgegengesetzt ist. Ihre Tochter Rosie sei dyslexisch. Es gibt ein hartes Lernprogramm, durch das Dyslexiker lernen können, ihre Behinderung zu überwinden: vier Stunden Buchstabentraining täglich in einem kleinen Zimmer mit einem speziellen Lehrer.
Talisman »Jeden Tag, wenn wir sie abholten, waren ihre Gesicht tränenrot, ihre Augen hohl und erschöpft. Wir baten sie inständig darum aufzugeben. Aber sie weigerte sich. Jeden Morgen stand sie auf, sammelte ihre Stofftiere und andere Talismane zusammen, um es durch diese Stunden zu schaffen. Ihre Schultern wurden von einem Gewicht heruntergedrückt, das ich ihr gern genommen hätte. Als ein grimmiger und brutaler Monat vorbei war, lernte Rosie lesen. Nicht, weil wir sie gezwungen hätten zu üben, nicht, weil wir sie dorthin geschleift hätten, während sie um sich trat und schrie, nicht, weil wir ihr Essen verweigerten oder sie nicht aufs Klo gehen ließen, sondern weil sie sich selbst dazu zwang.« Vielleicht markiert diese Geschichte den Unterschied zwischen chinesischer und jüdischer Erziehung.
Merke: Asiatische Mütter walken ihre Kinder ohne Gnade und Mitleid so lange durch, bis sie sich endlich als kleine Genies zu erkennen geben. Jüdische Mütter dagegen gehen selbstverständlich davon aus, dass es sich bei ihren Kindern ohnehin um Genies handelt. Allerdings gibt Ayelet Waldman zwischendurch auch zu, dass sie die »Tigermama« Amy Chua in gewisser Hinsicht be- neidet. Sie selbst fühlt sich nämlich beinahe dauernd schuldig. Sie denkt, dass sie irgendetwas falsch macht und hinter ihren Mutterpflichten zurückbleibt; sie kann sich kaum verzeihen, dass sie nicht pausenlos freundlich ist, sondern gelegentlich losbrüllt. Das ist also aus jüdischer Perspektive das Beneidenswerte an der chinesischen Tigermama: die völlige Absenz jeglichen Schuldgefühls.
Amy Chua: Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Nagel & Kimche, Zürich 2011. 256 Seiten, 19,90 Euro