Zwölf Tote, fast 50 Verletzte und die beinahe sichere Gewissheit, dass der islamistische Terror auch in Deutschland zugeschlagen hat. Das ist die Bilanz nach dem Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt am Montagabend.
»Deutschland hat offenbar die Terrorgefahr bisher unterschätzt«, sagt der israelische Terrorismusforscher Shlomo Shpiro, der in Berlin war und den Markt am Berliner Breitscheidplatz zehn Minuten vor dem Anschlag verlassen hatte. »Der Anschlag von Berlin ist der 11. September für Deutschland«, erklärt Shpiro. »Ab jetzt gehört der Terror zum Alltag.«
Der Jüdischen Allgemeinen sagt er: »Natürlich ist die Zahl der Opfer und das Ausmaß der Katastrophe nicht mit den Anschlägen vom 11. September in den USA zu vergleichen. Aber ich ziehe einen Vergleich in Bezug auf die politischen und vor allem auf die gesellschaftlichen Reaktionen heute und in der Zukunft.«
An der Urheberschaft des »Islamischen Staates« (IS) gibt es kaum noch Zweifel. Peter Neumann, Terrorismusexperte des Londoner King’s College, warnt in einem Interview, die Bedrohung könne noch anwachsen, »weil der IS auf die Rückschläge in seinem Kerngebiet so reagiert, dass er im Sinne einer asymmetrischen Kriegsführung nun auf Anschläge in Europa setzt«. Neumann war jüngst Gast beim Gemeindetag des Zentralrats der Juden und hatte dort über Terrorgefahr gesprochen.
israelis Zu den Opfern des Berliner Anschlags gehören mutmaßlich auch zwei Israelis: Ein Mann, Mitte 60, wurde schwer verletzt und in einem Berliner Krankenhaus mehrmals operiert, wie Liora Givon vom israelischen Konsulat in Berlin mitteilte. Die Ehefrau des Mannes wurde bis Redaktionsschluss noch vermisst. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu sagte, man fürchte um das Leben der Frau. Wie auch Israels Staatspräsident Reuven Rivlin übermittelte Netanjahu den Familien der Getöteten und der deutschen Regierung Israels Mitgefühl.
Netanjahu erklärte auch, der Anschlag zeige, dass Terror sich an jedem Ort der Welt ausbreitet und nur gestoppt werden kann, wenn er bekämpft wird. »Und wir werden ihn schlagen. Allerdings geschieht das schneller, wenn sich alle freien Nationen verbünden und dem Kampf gegen den Terrorismus anschließen.«
Der Anschlag löste weltweit Entsetzen aus. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte: »Wir werden die Kraft finden, für das Leben, wie wir es in Deutschland leben wollen: frei, miteinander und offen.« Merkel hatte nach dem Anschlag mit den Staatspräsidenten Frankreichs und der Türkei und mit ihren europäischen Amtskollegen aus Italien, Griechenland, Polen, Spanien und Schweden telefoniert.
obama Auch der scheidende US-Präsident Barack Obama bot Merkel am Montagabend telefonisch seine Unterstützung an. Obamas Nachfolger Donald Trump twitterte, es werde »nur noch schlimmer. Die zivilisierte Welt muss umdenken«.
Für den Zentralrat der Juden in Deutschland sagte Präsident Josef Schuster: »Wir sind zutiefst erschüttert. Ausgerechnet in der Vorweihnachtszeit, in der sich unsere Gesellschaft auf Werte wie Nächstenliebe, Güte und Frieden besinnt, wurde unser Land durch diesen abscheulichen Angriff erneut ins Mark getroffen.« Der Anschlag zeige, dass der Schutz jüdischer Einrichtungen in Deutschland »leider weiterhin seine Berechtigung« hat.
Er erinnerte daran, dass am 24. Dezember das christliche Weihnachts- und das jüdische Lichterfest Chanukka beginnen. »Mögen die Botschaften dieser beiden Feste uns Kraft spenden in diesen schweren Stunden.« Die jüdische Gemeinde setze auf die Gesellschaft, »sie hat Vertrauen in die deutschen Sicherheitsbehörden und den demokratischen Rechtsstaat«.
Die Jüdische Gemeinde zu Berlin teilte am Dienstag mit, dass sie um die Opfer des Anschlags und mit den Familien der Toten und Verletzten trauert. Der Berliner Gemeindevorsitzende Gideon Joffe schrieb: »Wir Berliner schätzen unsere Stadt als tolerant und weltoffen. Wir werden immer dafür kämpfen, dass dies auch so bleibt. Wir werden uns stets dafür einsetzen, dass Menschen verschiedener Herkunft, Religion und sexueller Orientierung hier weiterhin friedlich miteinander leben können.« Terror dürfe auch in Zukunft nicht unser Leben bestimmen.
rabbiner Für die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD) übermittelte deren Vorstandsmitglied Rabbiner Yehuda Zalman Pushkin Mitgefühl mit den Angehörigen. Zugleich sagte er: »Wir haben keinen Zweifel, dass die im Tanach verwurzelten Werte der Güte, Barmherzigkeit und guten Nachbarschaft über den Hass, die Gewalt und mörderische Barbarei derer, die versuchen, unsere Welt ins Chaos zu stürzen, siegen werden.«
Rabbiner Jonah Sievers drückte für die Allgemeine Rabbinerkonferenz Entsetzen und Trauer aus. »Trotzdem dürfen wir uns nicht abschrecken lassen, weiterhin unser Leben in Freiheit zu leben.«
Rabbiner Yehuda Teichtal, Gemeinderabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Vorsitzender des Jüdischen Bildungszentrums Chabad, sagte: »Diese brutale Tat hat nicht nur die deutsche Gesellschaft zutiefst erschüttert und verunsichert. Wir fühlen mit den Angehörigen der Opfer und verurteilen diese hasserfüllten Taten aufs Schärfste.«
Solidarität erfährt Berlin aus der gesamten jüdischen Welt. Israels Botschafter in Deutschland, Yakov Hadas-Handelsman, erklärte, dass Israel an der Seite Deutschlands steht. »Dieser Anschlag auf unschuldige Menschen in der Weihnachtszeit muss als Angriff auf die Werte der westlichen Gesellschaft verstanden werden. Terror darf niemals unser Leben bestimmen.«
international Der World Jewish Congress twitterte kurze Zeit nach dem Anschlag: »Unsere Gedanken und Gebete sind bei euch.« Und auch Frankreichs Oberrabbiner Haim Korsia meldete sich per Twitter: »Mit ganzem Herzen bin ich bei den Berlinern und dem gesamten deutschen Volk. Meine Gebete sind mit Ihnen.«
Mit Betroffenheit reagierte auch der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG). In einem Schreiben an Josef Schuster drückten SIG-Präsident Herbert Winter und SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner ihre Solidarität mit der deutschen Bevölkerung aus. »In diesen schweren Stunden sind unsere Gedanken auch bei den Juden in Deutschland.« Der An-schlag treffe alle Menschen und »unsere gemeinsamen Werte, die wir gewillt sind, gemeinsam zu verteidigen«.
politik Auf politischer Ebene meldete sich Nachman Schai, israelischer Vorsitzender der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe, zu Wort und drückte seinem deutschen Kollegen Volker Beck sein Beileid aus. »Der Terrorismus bedroht die demokratischen Gesellschaften und die westliche Zivilisation. Nur wenn wir zusammenstehen und entschlossen sind, können wir ihn besiegen«, so Schai.
Wie der Terrorismus besiegt werden kann, ist die große Frage, die derzeit nicht nur die jüdische Öffentlichkeit bewegt. Der israelische Experte Shlomo Shpiro sagt: »Es muss viel mehr Geld in die innere Sicherheit investiert werden, aber vor allem muss eine Strategie entwickelt werden.« Die Entscheidungswege müssten verkürzt werden, sagt er und fragt: »Wozu braucht Deutschland 17 verschiedene Inlandsnachrichtendienste?« Sabine Brandes, Martin Krauß