Theodor Herzl lag nicht viel an Jerusalem, einer Stadt, die er bei seinem einzigen Besuch als schmutzig und wenig attraktiv empfand. Fürs Symbolische jedoch hatte er immer viel übrig. In seinem utopischen Roman Altneuland, der in der hebräischen Übersetzung wenige Jahre später Tel Aviv seinen Namen geben sollte, sah er den Tempel in Jerusalem wieder errichtet.
Doch entsprach Herzls Vorstellung vom Tempel eher dem in der Wiener Seitenstettengasse denn jenem auf dem Berg Moriah. Die Frauen beteten auf der Empore, und die Tempelplätze wurden je nach Sicht verkauft. Lediglich statt der Orgelbegleitung ertönte Lautenspiel. Kein Wunder also, dass diese Beschreibung den Spott anderer Zionisten hervorrief.
nationaldichter Als Herzls Rivale Achad Ha’am in den 20er-Jahren nach Palästina ging, ließ er sich in Tel Aviv nieder, ebenso wie der Nationaldichter Chaim Nachman Bialik und die politische Führung um David Ben-Gurion. Herzl äußerte in Gesprächen mit Freunden den Wunsch, auf dem Berg Carmel in Haifa begraben zu werden. Die »erste hebräische Stadt« Tel Aviv, das wunderschön gelegene moderne Haifa und natürlich der sozialistisch geprägte Kibbuz waren die Ideale der zionistischen Bewegung und des damit verbundenen »neuen Juden«. Die Kotel und der Tempelberg in Jerusalem dagegen waren für viele Zionisten Symbole des Exils, der Trauer und der Zerstörung.
Als die UNO im November 1947 einen Teilungsplan vorschlug, der Jerusalem als internationale Zone vorsah, stimmte die zionistische Führung diesem zu, während die Araber bekanntlich ablehnten. Mit dem heftigen Kampf um Jerusalem während des Unabhängigkeitskrieges wuchs auch die politische Bedeutung der Heiligen Stadt. Die jordanische Besatzung mit der Zerstörung wichtiger Synagogen und dem Verbot für Juden, ihre heiligen Stätten zu besuchen, erhöhte den Stellenwert Jerusalems.
Dennoch war es vorerst nur der Westteil der Stadt, der für Israel von praktischer Bedeutung war. Hier entstanden die wichtigsten Stätten des neuen Israel: die Knesset, die Holocaustgedenkstätte Yad Vashem, das Israel-Museum und der Herzlberg, auf dem die Staats- und Regierungschefs sowie die gefallenen Soldaten ihre letzte Ruhe finden sollten. Doch ließen sich nicht alle von der steigenden Bedeutung Jerusalems überzeugen: Ben-Gurion wollte lieber in seinem Kibbuz Sde Boker im Negev begraben werden, sein Nachfolger Moshe Sharett in Tel Aviv.
zentralität Ihre eigentliche Zentralität erhielten die heiligen Stätten in Jerusalem für den Staat Israel erst nach dem Sechstagekrieg 1967. Das Bild von der Einnahme der Kotel durch israelische Soldaten wurde zur Ikone des neuen Israel. Die zentrale Rolle, die das alte jüdische Heiligtum im neuen Staat nach Erweiterung des Platzes vor der Kotel einnahm, wurde allerdings nicht von allen befürwortet. Der Philosoph Jeschajahu Leibowitz kritisierte die neue Touristenattraktion als »Diskotel«.
Jahrzehntelang bestand weitgehend Konsens darüber, dass für religiöse Juden der unter Kontrolle der muslimischen Waqf stehende Tempelberg tabu war, da sie sonst das nur den Hohepriestern erlaubte Allerheiligste (Kodesch Hakodaschim) betreten könnten. Abweichende Meinungen kamen zunächst nur aus radikalen Gruppen wie der Siedlerorganisation Gusch Emunim, aus deren Reihen in den 80er-Jahren Terroristen entsprangen, die die Sprengung der Al-Aksa-Moschee und den Bau eines Dritten Tempels planten.
Als der damalige Oppositionspolitiker Ariel Scharon im September 2000, beschützt von über 1000 Polizisten, den Tempelberg besuchte, war für viele jüdische Israelis eine Legitimierung des Betretens der tabuisierten Stätte gegeben. Der arabischen Bevölkerung dagegen diente der Besuch als Signal für den Ausbruch der Zweiten Intifada.
debatte Der Anschlag auf den Rabbiner Yehuda Glick, der als Aktivist für den Aufbau eines Dritten Tempels auch das Recht für Juden, auf dem Tempelberg zu beten, gefordert hatte, brachte vor einigen Wochen die Debatte über die Rolle der Juden auf dem Tempelberg erneut ins Rollen. Der sefardische Oberrabbiner Yitzhak Yosef stellte klar, dass es für Juden aus religiösen Gründen verboten sei, den Tempelberg zu betreten.
Außenminister Avigdor Lieberman, sonst eher als Hardliner bekannt, stimmte diesem Aufruf aus politischen Gründen zu, um die Stimmung in Jerusalem nicht weiter aufzuheizen. Dagegen erklärte Wirtschaftsminister Naftali Bennett das Recht der Juden, auf dem Tempelberg zu beten, zu einer Schicksalsfrage für die Zukunft Israels. Die Radikalen auf arabischer Seite freuen sich über möglichen Zündstoff.
In der Tempelberg-Debatte zeigen sich nicht nur die Verschiebungen in der zionistischen Ideologie, sondern auch die Fronten israelischer Politik. Im nun begonnenen neuen Wahlkampf gibt es noch Hoffnung, den Brandstiftern auf beiden Seiten die Zündhölzer aus den Händen zu nehmen. In dieser Beziehung waren die Worte von Oberrabbiner Yosef und Außenminister Lieberman wichtig. Denn schneller als der Dritte Tempel könnte die dritte Intifada kommen.