Die vom Zentralrat der Juden in Deutschland mitveranstaltete Tagung »Wie erinnern wir den 9. November –ein Tag zwischen Pogrom und demokratischen Aufbrüchen« im Schloss Bellevue ist am Mittwochmittag wegen des Todes eines Teilnehmers vorzeitig abgebrochen worden.
Am Rand der Veranstaltung war der frühere DDR-Bürgerrechtler und spätere Grünen-Politiker Werner Schulz zusammengebrochen. Wie ein Sprecher des Bundespräsidialamtes bestätigte, starb Schulz noch im Schloss Bellevue. Er wurde 72 Jahre alt.
SCHWEIGEMINUTE Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gab den Tod von Werner Schulz während der Tagung am Mittag bekannt. Mit einer Schweigeminute erinnerten die Teilnehmer und Gäste an den plötzlich Verstorbenen.
Wie Steinmeier weiter sagte, hatte es zuvor einen Notarzteinsatz gegeben. Der Bundespräsident dankte Zentralratspräsident Josef Schuster, der auch Arzt ist und bei der Veranstaltung als Redner auftrat, für seine Hilfe bei den Reanimierungsbemühungen, die am Ende leider nicht zum Erfolg geführt hätten.
Am Nachmittag kondolierte der Bundespräsident Monika Schulz, der Frau von Werner Schulz. »Die Nachricht vom plötzlichen Tod Ihres Mannes, der heute hier bei uns im Hause so tragisch mitten aus dem Leben gerissen wurde, hat mich zutiefst bestürzt und macht mich sehr traurig. Ich spreche Ihnen und allen Angehörigen mein tief empfundenes Beileid aus«, sagte Steinmeier.
Weiter erklärte der Bundespräsident: »Als einer der ersten ostdeutschen Abgeordneten im Deutschen Bundestag war Werner Schulz über Parteigrenzen hinweg hoch geachtet. Wir verlieren einen unserer leidenschaftlichsten Politiker, der sich seine Unabhängigkeit bewahrte und auch dort Stellung bezog, wo es unbequem war. Früh hat er auf die wachsende Bedrohung der russischen Opposition, auf den wachsenden Nationalismus des Systems Putin hingewiesen.«
Zentralratspräsident Schuster teilte am Nachmittag mit: »Der Bürgerrechtler und ehemalige Europaabgeordnete Werner Schulz ist heute am Rande der vom Bundespräsidenten und dem Zentralrat der Juden in Deutschland gemeinsam veranstalteten Tagung ›Wie erinnern wir den 9. November?‹ verstorben. Wir haben die Veranstaltung aufgrund dieses tragischen Vorfalls abgebrochen. Unsere Gedanken sind bei der Familie von Werner Schulz. Wir haben Werner Schulz stets als einen engagierten Demokraten erlebt, der die Freiheit liebte und an der Seite der jüdischen Gemeinschaft für Menschenrechte eingetreten ist.«
ZIVILISATIONSBRUCH Zu Beginn der Tagung hatte Steinmeier in seiner Begrüßung betont, der 9. November werde in Deutschland für immer an den «Zivilisationsbruch des Holocausts» erinnern. «Immer wird uns der 9. November zum Kampf gegen den Antisemitismus auffordern», sagte der Bundespräsident.
Der 9. November 1938 sei nicht der Beginn der Judenverfolgung gewesen. «Aber was an diesem Tag der offenen Gewalt geschah, war der für alle sichtbare Vorschein der dann folgenden, genau geplanten und mit brutaler Konsequenz durchgeführten Entrechtung, Verschleppung und schließlich Vernichtung der Juden Deutschlands und Europas.»
«Immer wird uns der 9. November zum Kampf gegen den Antisemitismus auffordern.»
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
Am 9. November 1918 war vom Berliner Reichstag aus die Republik ausgerufen und so das Ende der Monarchie besiegelt worden. Am 9. November 1938 fanden die Pogrome der Nazis gegen die jüdische Bevölkerung statt. In ganz Deutschland brannten Synagogen, wurden Geschäfte geplündert und zerstört, Jüdinnen und Juden wurden misshandelt, willkürlich verhaftet und getötet. Der 9. November 1989 schließlich steht für den Fall der Berliner Mauer und das Ende der Teilung Deutschlands.
Aufgabe Steinmeier sagte: «Der 9. November stellt uns in jedem Jahr neu vor die Aufgabe: Wie können wir der unterschiedlichen historischen Ereignisse, derer von 1918, 1938 und 1989, so gedenken, dass nicht eines dem historischen Vergessen anheimfällt?» Dies sei keine nebensächliche Frage, sondern sie gehöre in das Zentrum unseres Selbstverständnisses. An der Art und Weise, wie die Deutschen die verschiedenen 9. November in Erinnerung halten und ihrer würdig und angemessen gedenken, «entscheidet sich unsere Identität», sagte Steinmeier.
«An diesem Tag wird uns ja, wenn wir uns alle seine Aspekte wahrhaftig vor Augen führen, immer wieder deutlich, zu welch großartigen Möglichkeiten und demokratischen Aufbrüchen einerseits und zu welchen Abgründen, zu welchen entsetzlichen Verbrechen andererseits wir hier in Deutschland fähig waren», sagte der Bundespräsident.
Debatte Nach Steinmeiers Rede und einem Vortrag des Soziologen Armin Nassehi von der Universität München begrüßte Zentralratspräsident Josef Schuster die Teilnehmer. Ursprünglich hatte er direkt nach Steinmeier sprechen sollen, verließ aber nach Mitteilung der Moderatorin wegen eines Notfalls den Saal. Schuster bezeichnete die Debatte um das Gedenken am 9. November als »Frage der Identität«. Er erteilte der Rede vom »deutschen Schicksalstag« eine Absage: »Es war kein Schicksal, dass die Deutschen zu Vernichtern des europäischen Judentums wurden«, sagte Schuster. »Es waren Entscheidungen, die zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten getroffen wurden.«
Die Frage nach dem »richtigen Erinnern« stehe hoch im Kurs, so Schuster. Die »ikonischen Bilder vom Sturz der Mauer voller Zuversicht, Hoffnung und Farbe« dürften nicht »die Bilder der brennenden Synagogen voller Verzweiflung, Trauer und dunkler Schatten überlagern«. Der 9. November 1938 bedeute »die Zäsur, in der Deutschland den Zivilisationsbruch einleitete«. Es seien »längst nicht alle Lehren daraus gezogen«.
Er mahnte: »Wir sollten also nicht nachlässig werden, wenn es dieser Tage heißt, die Deutschen hätten auch ein ›Recht zu vergessen‹ oder der unsägliche Begriff einer ›Holocaust-Kultur‹ verwendet wird.« Schuster betonte zudem, dass es nicht darum gehe, die Last der jüdischen Gemeinschaft zu teilen. »Aber es gibt etwas, das heißt Empathie. Und damit diese entstehen kann, braucht es Respekt. Respekt vor denjenigen, die diese Last tragen müssen«, so der Zentralratspräsident. (mit dpa)
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