Im Jahr 69 nach Gründung der ersten Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit im Deutschland der Nachkriegszeit gibt es wieder eine Woche der Brüderlichkeit mit dem aktuellen Motto »Angst überwinden – Brücken bauen«.
Überschattet wird diese von einer in zahlreichen Landesparlamenten geführten Diskussion um den Reformationstag als zusätzlichen staatlichen Feiertag, die, wenn man dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, folgt, eine Chance für interreligiösen Dialog hätte sein können. Der Präsident des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, Michael Fürst, sieht eine Entscheidung für den Reformationstag »nicht nur für fehlerhaft, sondern für untragbar« an.
sonntagsreden »Angst überwinden – Brücken bauen«: in Fragen, die über Sonntagsreden hinausgehen, zum Beispiel in dem aktuellen Anliegen, nach einem Feiertag zu suchen, in dem sich möglichst viele in der Gesellschaft wiederfinden – Fehlanzeige! Zwar gibt es in der Evangelischen Kirche in Deutschland einen Gemeinsamen Ausschuss »Kirche und Judentum«. Dessen Mitglieder sind aber allesamt Christen. Anders als der Gesprächskreis »Juden und Christen« beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken ist er nicht paritätisch besetzt.
Das hätte der Ort sein können, wo danach gefragt wird – wenn über einen zusätzlichen Feiertag nachgedacht werden soll –, ob im Jahr 73 nach der Schoa und in Zeiten des ständig steigenden Antisemitismus ein alle betreffender Feiertag nicht ein gemeinsames Anliegen von Juden, evangelischen und katholischen Christen sowie der großen Zahl von religiös nicht Gebundenen, ja vielleicht auch von interessierten Muslimen sein könnte.
Wie wenig inhaltlich fundiert in unserer heutigen Gesellschaft ein weiterer kirchlicher Feiertag ist, kann man am Statement des Bischofs im Sprengel Schleswig und Holstein, Gothart Magaard, ablesen, der nach dem Bremer Beschluss zum »Reformationsfeiertag« ankündigte, man werde in den nächsten Monaten den breiten gesellschaftlichen Konsens suchen, damit dieser Feiertag »neue Impulse in die Welt sendet« – wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland treffend kommentiert: »eine Reform des Reformationstages sozusagen«.
grundgesetz Wie aber könnte ein in unserer Gesellschaft relevanter Feiertag aussehen? Was sind die leider in dieser Zeit infrage gestellten Fundamente, auf denen unser Staat steht? »Brücken bauen«: Das hieße, auf ein Grundgesetz bauen, das aus der Erfahrung des NS-Terrorstaates alle Menschen in Würde und mit gleichem Recht behandelt. Dies spräche für den Tag, an dem die Väter unserer Republik 1949 das Grundgesetz in einer feierlichen Sitzung des Parlamentarischen Rates ausgefertigt und verkündet haben, den 23. Mai.
Ich bin sicher, ein solcher Tag könnte von allen Deutschen – ob in Kirchen, Moscheen, Synagogen oder einfach in Rathäusern oder auf Marktplätzen – mit Freude gefeiert werden. Gleichzeitig böte sich hier auch Raum für das Gedenken an die Opfer des NS-Terrors und für aktuelle kritische Fragen zum Beispiel zu Personen, die im Abseits stehen und grundgesetzlich verbrieften Schutz brauchen.
»Angst überwinden – Brücken bauen«: vom Atlantik bis an den Ural ohne Grenzen reisen, nicht durch das Europa einer Hegemonialmacht, sondern durch ein Europa der Regionen. Das symbolisiert der 8. Mai 1945, als Europa in Schutt und Asche lag, als einigen Visionären wie de Gaulle und Adenauer, aber auch Churchill, klar wurde: Nicht ein Nationalstaat schützt Menschen, sondern nur ein geeintes Europa.
friedenskonzept Binnen weniger Jahrzehnte wurde es Wirklichkeit – und heute hat dieses Friedenskonzept dennoch wieder erbitterte Feinde. Es umso mehr zu feiern und auf seine Errungenschaften hinzuweisen, das könnte ein bunter Feiertag werden, auch wenn zugleich die Trümmerberge zu thematisieren sind, wie auch der Umstand, dass es auf dem ganzen Kontinent an diesem Tag kaum eine Familie gegeben hat, in der nicht um die Toten getrauert wurde.
»Angst überwinden – Brücken bauen«: Das könnte man auch am 27. Januar, der durch die Initiative von Bundespräsident Herzog seit 1996 als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus gesetzlich verankerter Gedenktag ist. In einer Zeit, in der Funktionsträger einer Partei die Erinnerung an die Millionen Opfer verbal diffamieren, ohne dafür ausgeschlossen zu werden, hätte ein solcher Gedenktag sicherlich mehr Relevanz und Potenzial für gesellschaftlich notwendige Diskurse als der Reformationstag.
Aber die jahrhundertealte Verbindung von Thron und Altar – heute Politik und Altar – ist noch immer viel stärker als die christlich-jüdische Zusammenarbeit. Deshalb sind wir Bürgerinnen und Bürger gefragt, uns in dieser ältesten Bürgerinitiative zu engagieren – nicht nur eine Woche der Brüderlichkeit lang, sondern Tag für Tag, durchs ganze Jahr: Den christlich-jüdischen Dialog kann man nicht den Kirchen überlassen.
Der Autor ist Rabbiner in Berlin und jüdischer Präsident des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.