Bayern erlebt Tage des Schreckens», sagte Ministerpräsident Horst Seehofer nach den Bluttaten des Wochenendes. Wirklich, es sind Tage des Schreckens, nicht nur für Bayern, sondern für ganz Deutschland, für die gesamte westliche Welt und selbstverständlich auch für uns Juden, die wir hier leben. Und ausgerechnet in diesen Tagen erinnern wir an eine Periode des Schreckens, die 1946 Jahre zurückliegt. Doch ist die Lehre aus dieser Zeit aktueller denn je.
Gemeint ist die Belagerung Jerusalems. Am vergangenen Schabbat war der 17. Tamus, am Tag danach haben wir gefastet. Damit begann eine dreiwöchige Zeit der Trauer, die jedes Jahr wiederkehrt und die am 9. Aw ihren Höhepunkt findet. Am 17. Tamus gedenken wir, neben anderer Tragödien der jüdischen Geschichte, des Durchbruchs der Stadtmauer von Jerusalem. Die Römer hatten die Stadt angegriffen; die Belagerung Judäas dauerte ganze drei Jahre, sie führte schließlich zur Eroberung der Stadt und zur Zerstörung des Tempels. Das war im Jahr 70 der modernen Zeitrechnung.
Tempel Aber schon zuvor spielten sich grausame Szenen in der Stadt ab: Zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen eskalierten die Konflikte, selbst im Tempel wurde ein blutiger Streit angezettelt, Extremisten verbreiteten Angst und Schrecken, es gab Tote und Verletzte. Und das alles in der Zeit der äußeren Bedrohung.
Warum ich davon erzähle? Weil es auch heute eine äußere Bedrohung gibt, hier bei uns in Europa: die des islamistischen Terrors. Und weil ich auch heute befürchte, dass unsere Gesellschaft gespalten werden könnte, Extremisten und Populisten Zulauf gewinnen, das Trennende betont wird und das Gemeinsame verloren gehen könnte. Ich weiß: Geschichte wiederholt sich nicht eins zu eins. Der Islamische Staat ist nicht Rom, München nicht Jerusalem. Dennoch: Es gibt eine Bedrohung von außen, die sich gegen uns und unsere Werte richtet. Heute wie damals. Sie will uns ihre «Kultur» aufzwingen, sie will unsere Gesellschaft spalten, um sie zu vernichten.
Bedrohung führt zu verschiedenen Phänomenen, erst einmal zu Unsicherheit und Angst. «Wir müssen realisieren, dass es absolute Sicherheit nicht mehr gibt», sagte Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter. Dieses Gefühl beschleicht uns wohl alle. Seit Wochen folgt eine Schreckensmeldung der anderen: In Kiriat Arba wird ein 13-jähriges Mädchen im Schlaf erstochen, in Orlando erschießt ein Terrorist Dutzende Besucher eines Nachtclubs, in Nizza rast ein Attentäter mit einem LKW in eine Menschenmenge. Dazu die Bilder aus Syrien, Irak oder Mali. Lange dachten wir: Das ist weit weg. Dann kam Würzburg, jetzt Ansbach. Ja, der islamistische Terror ist nun auch bei uns angekommen. Nirgendwo scheint man mehr sicher: nicht einmal mehr in einer Regionalbahn in Unter- oder auf einem Musikfestival in Mittelfranken.
Trauma Was können wir tun? Ich habe kein Patentrezept, bin kein Terrorexperte, sondern Rabbiner. Aber klar ist: Wir müssen das Problem erkennen und benennen. Ob die Täter traumatisiert zu uns kamen oder sich selbst radikalisiert haben, ist dabei nachranging. Sie bringen den islamistischen Terror zu uns, und der muss bekämpft werden. Das ist Aufgabe der Sicherheitskräfte, die übrigens in den vergangenen Tagen eine hervorragende Arbeit geleistet haben. Die Politik muss jetzt handeln, sie muss uns die Sicherheit wieder zurückgeben, muss mäßigend wirken, nicht vereinfachen, verallgemeinern und womöglich aufstacheln.
Das müssen und können wir auch selbst verhindern. Wir müssen zusammenstehen, beieinander bleiben. So wie die Münchner, die am Freitagabend Unterschlupf anboten und sich gegenseitig Mut zusprachen. Unterstützen wir einander! Und schließen wir dabei auch Muslime mit ein. Hüten wir uns vor Generalverdacht. Und stehen wir denen bei, die sich gegen die aus ihrer Mitte kommende Gewalt wehren.
Und führen wir unser Leben fort! Zweifellos sollten wir dabei Vorsicht walten lassen, nicht naiv und ohne Sicherheitsvorkehrungen dem Phänomen begegnen. Dabei können wir von den Erfahrungen der Israelis lernen, die schon seit Jahrzehnten mit islamistischem Terror umgehen müssen. Sie wissen, dass es sehr gute Schutzmaßnahmen, aber keine 100-prozentige Sicherheit gibt. Und sie wissen auch, dass sie den Gewalttätern nicht den Gefallen tun dürfen, ihr Leben aus Angst zu verändern, Einkaufszentren, Gaststätten oder Kinos, Konzerte und andere Events zu meiden.
Terror Sie fliehen nicht vor der Bedrohung, spielen auch den Kindern – ab einem gewissen Alter – keine heile Welt vor. Eltern und andere Bezugspersonen thematisieren das Phänomen des Terrors. Das sollten wir auch tun, und das, was wir den Kleinen klarmachen, uns auch selbst immer wieder vor Augen führen: Wir sind die Mehrheit, die Terroristen in der Minderheit. Wir bleiben stark, die anderen sind schwach. Wir haben die richtigen Werte, die anderen das Unrecht. Und nicht zuletzt: Wir haben unsere Gebete, die uns stark machen und die uns versichern, dass Gott immer mit uns ist.
In Notsituationen erlebt man in Israel immer wieder, dass Menschen – seien sie im normalen Leben noch so unterschiedlich – zusammenstehen. Heute. Damals im belagerten Jerusalem war es nicht so. Dort stürzten sie sich in noch mehr Hass und Gewalt. Dessen erinnern wir uns in diesen Tagen. Und die auch für heute aktuelle Lehre lautet: Gemeinsam können wir der Belagerung standhalten und die Gegner besiegen.
Der Autor ist ab 1. August Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main.