Nachdem in Tel Aviv erneut ein Bus explodiert ist und die Zahl der israelischen Todesopfer in dieser dritten Intifada damit auf über 1000 angestiegen ist, telefoniert Premierminister Netanjahu wieder einmal mit dem Weißen Haus, um endlich politische Unterstützung zu bekommen. Präsident Obama lässt über seinen Pressesprecher das Attentat als »feigen Mord an Zivilisten« verurteilen, lehnt jedoch ein Veto im UN-Sicherheitsrat ab, als Israel erneut verurteilt wird.
Denn tags zuvor hat die israelische Armee in Nablus ein Blutbad angerichtet, um Dschihadisten, die speziell von dort etliche Selbstmordattentate in dieser neuen Runde der Gewalt geplant hatten, dingfest zu machen. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag will eine Untersuchungskommission schicken, doch die Klage gegen Israel wegen Menschenrechts- und Kriegsverbrechen, die Palästina als ordentliches Mitglied dieser Organisation eingereicht hat, läuft sowieso schon.
Arbeitslosigkeit Die Armee aber drängt, mit noch größerer Gewalt gegen die Palästinenser vorzugehen. Die marode Wirtschaft Israels, die seit den weltumfassenden Sanktionen darniederliegt, hat dem Land eine der schlimmsten Rezessionen seiner Geschichte beschert. Die Arbeitslosigkeit ist inzwischen auf rund 28 Prozent gestiegen, Israels Finanzreserven sind so gut wie aufgebraucht. Der Staat hat kaum noch Geld, um die Ersatzteile für seine Panzer, die obendrein ebenfalls einem Boykott zum Opfer gefallen sind, zu bezahlen.
Selbst wenn der jüdische Staat sie noch finanzieren könnte, sie würden schlicht nicht mehr geliefert. In der Zwischenzeit feiert Innenminister Gideon Saar gemeinsam mit anderen Knessetabgeordneten wie Zipi Hotovely, Miri Regev und Ayelet Shaked die Grundsteinlegung für ein neues Haus in einem sogenannten illegalen Außenposten im Westjordanland, das, so Saar in einer Ansprache vor Ort, gar nicht illegal sein kann, weil Eretz Israel natürlich den Juden gehört und sonst niemandem.
In Aschdod aber randalieren die Bürger bei einer Demonstration und skandieren »Saar muss weg, Ahronovitch muss weg«, weil beide Minister keine Zeit haben, die neue Frontstadt zu besuchen. Nach dem 50. Einschlag einer M-75-Rakete aus Gaza fliehen die Bürger aus der Stadt in Richtung Tel Aviv, das aber auch nicht mehr sicher ist, die Raketen erreichen längst die Vorstädte, und die Bombenattentate gehen weiter …
Horrorszenario Was für ein absurdes Horrorszenario beschreibt da der Autor, werden Sie denken. Nun, auch wenn die Details vielleicht nicht in allen Einzelheiten stimmen mögen, so in etwa könnte die Zukunft Israels aussehen, falls Premier Netanjahu in diesen Wochen und Monaten genau das tut, was die Israelis seit Jahrzehnten gerne den Palästinensern vorwerfen: dass sie keine Gelegenheit auslassen, um eine Gelegenheit auszulassen.
US-Außenminister Kerry ist für den Augenblick etwas gelungen, was ihm niemand zugetraut hätte: Er hat es geschafft, Netanjahu und Palästinenserpräsident Abbas am Verhandlungstisch zu halten. Ende des Monats will er ein Rahmenabkommen vorlegen, das den weiteren Weg zum endgültigen Frieden vorgibt und das, so hofft Kerry, beide Seiten in die Schlussrunde zwingt, ohne dass es dann noch ein Zurück gibt. Denn Kerry wird ein »Nein« von beiden Seiten schlicht nicht akzeptieren. Und wenn doch? Wenn Israel dennoch Nein sagt?
Wenn Netanjahu seine Macht wichtiger ist, seine Angst vor Entscheidungen (oder vor Ehefrau Sara, wie so manche gar nicht so zynische Beobachter in Israel manchmal schreiben) größer ist als seine Einsicht, dass er eigentlich keine andere Wahl hat, als weiterzumachen? Was, wenn der Ideologe Netanjahu über den Pragmatiker und Realpolitiker Netanjahu siegt? Was, wenn sich herausstellt, dass er eben doch kein Scharon ist, sondern einfach nur der kleine Bruder seines großen Idols? Dann – siehe oben.
EU-Boykott Israel ist an einem Scheideweg angekommen. Es hat die Möglichkeit, sich mit einem Schlag den Respekt und die Unterstützung der westlichen Welt zurückzuerobern, muss keine Endlosverhandlungen mehr führen, um einen EU-Boykott wie jetzt bei »Horizon 2020« zu verhindern, kann dann nach dem Friedensvertrag im Falle von Terrorangriffen auf Hilfe rechnen. Israel kann sich der internationalen Isolation entziehen.
Dazu muss Jerusalem aber auch darauf achten, nicht den (jüdischen) Fundamentalisten und Rassisten die Macht in der Knesset zu überlassen, in der sie jetzt schon Äußerungen ungestraft von sich geben können, die in jedem anderen Rechtsstaat nicht nur juristisch, sondern mit der sofortigen Absetzung von allen politischen Ämtern geahndet würden. Nichts dergleichen aber geschieht in Israel. Schon heute nicht mehr.
Netanjahu hat also die Wahl. Oder besser: Er hat keine Wahl. Doch vielleicht hofft er insgeheim, dass die Palästinenser Kerry den Rücken zukehren. Das kann natürlich auch geschehen. Dann hätte Netanjahu gewonnen, Israel aber trotzdem verloren.
Der Autor ist Chefkorrespondent und Leiter des ARD-Studios in Tel Aviv.