»Wie erinnern wir den 9. November?« Unter diesem Motto hatten das Bundespräsidialamt und der Zentralrat der Juden in Deutschland eine gemeinsame Tagung konzipiert. Die Unterzeile »Ein Tag zwischen Pogrom und demokratischem Aufbruch« machte die Spannung im Gedenken an den zwiespältigsten Tag der deutschen Geschichte deutlich.
Am 9. November des Jahres 1918 wurde in Berlin die Weimarer Republik ausgerufen, 1923 konnte in München der Putsch von Adolf Hitler verhindert werden, 1938 begann mit den Novemberpogromen im gesamten Deutschen Reich ein »rassistischer Krieg gegen die Nachbarn« (so der Historiker Christoph Kreutzmüller während der Tagung), und am 9. November 1989 wurde die Berliner Mauer geöffnet.
perspektiven Hochkarätige Referentinnen und Referenten wie Rachel Salamander, Raphael Gross und Mirjam Wenzel sollten am Mittwoch vergangener Woche den 9. November aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Auch ein Grußwort von Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) stand auf dem Programm. Doch wegen des plötzlichen Todes des ehemaligen DDR-Bürgerrechtlers Werner Schulz (72) am Vormittag am Rande der Veranstaltung brach Frank-Walter Steinmeier die Tagung nach etwa zwei Stunden ab.
Gegen elf Uhr hatte der Bundespräsident sie im Großen Saal von Schloss Bellevue eröffnet und in seiner Rede die Herausforderungen benannt. »Der 9. November stellt uns in jedem Jahr neu vor die Aufgabe: Wie können wir der unterschiedlichen historischen Ereignisse, derer von 1918, 1938 und 1989, so gedenken, dass nicht eines dem historischen Vergessen anheimfällt? Das ist keine nebensächliche Frage, sondern sie gehört in das Zentrum unseres Selbstverständnisses (…). An der Art und Weise, wie wir Deutsche unseren 9. November – oder unsere verschiedenen 9. November – in Erinnerung halten, wie wir ihrer würdig und angemessen gedenken, entscheidet sich unsere Identität«, sagte Steinmeier.
Wegen eines Notfalls – so informierte Moderatorin Shelly Kupferberg die Teilnehmer der Tagung – verließ Zentralratspräsident Josef Schuster kurz darauf für einige Zeit den Saal. Den Auftaktvortrag hielt Armin Nassehi, Soziologe an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dessen These, auch eigene Vergangenheiten könnten sich verändern und seien offen, sollte im Lauf des Vormittags nicht unwidersprochen bleiben.
DOCUMENTA Anschließend holte Schuster seine ursprünglich früher im Programm vorgesehene Begrüßung der Teilnehmer nach. Die jüdische Gemeinschaft wisse das Engagement des Bundespräsidenten sehr zu schätzen, »auch und gerade im Kampf gegen Antisemitismus, egal, woher er kommt«, sagte der Zentralratspräsident. Schon auf der documenta habe Steinmeier von Beginn an eine »klare Haltung« gezeigt, unterstrich Schuster und nahm damit Bezug auf die Eröffnungsrede des Bundespräsidenten bei der Weltkunstschau im Juni in Kassel.
Der 9. November sei »ein Tag der Ambivalenzen«. Manche, so Schuster, sprächen »metaphysisch aufgeladen vom ›deutschen Schicksalstag‹. Es war aber kein Schicksal, dass die Deutschen zu Vernichtern des europäischen Judentums wurden«. Und es sei auch kein Schicksal gewesen, »das Deutschland teilte und auf wundersame, quasi vergebende Weise wieder vereinte«: Die beeindruckenden, ikonischen Bilder vom Sturz der Mauer dürften die Bilder der brennenden Synagogen voller Verzweiflung, Trauer und dunkler Schatten nicht überlagern, sagte Josef Schuster.
»Die Bilder vom Sturz der Mauer dürfen die Bilder der brennenden Synagogen nicht überlagern.«
zentralratspräsident josef schuster
Anschließend wandte sich der Historiker Robert Gerwarth vom University College Dublin gegen die Auffassung vom »Schicksal« der Weimarer Republik – ihr Ende sei keineswegs vorherbestimmt gewesen. Es sei falsch, sie »nur rückwärts durch das Prisma« der Machtergreifung Hitlers 1933 zu lesen, betonte Gerwarth. Der Historiker Wolfgang Niess forderte, den 9. November zu einem offiziellen Gedenktag zu machen, damit sich Schüler jedes Jahr mit den verschiedenen Aspekten des Tages auseinandersetzen könnten.
Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk vertrat eine andere Ansicht: Nicht der 9. November 1989, sondern der 9. Oktober 1989 sei der eigentliche Tag der »Revolution« gewesen, als die hochgerüstete DDR-Diktatur in Leipzig angesichts von Zehntausenden Demonstranten kapituliert habe. »Feiern wir den Tag der Revolution am 9. Oktober! Der 9. November sollte alleine den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus, der Schoa, gehören«, befand Kowalczuk.
GEDÄCHTNIS Ein Panel beschäftigte sich im Anschluss mit dem persönlichen Blick auf den historischen Tag. Eindringlich waren die Ausführungen der Berliner Literaturwissenschaftlerin und Antisemitismusforscherin Yael Kupferberg, die unterstrich, die Ambivalenz gegenüber diesem Gedenktag sei enorm. »Wir haben hier im 9. November, zumindest für das jüdische Gedächtnis, eine Dreischichtigkeit«, sagte sie.
»Wenn das Gedächtnis, wenn jüdische Existenz und Demokratie so aufs Engste miteinander verbunden sind, auch symbolisch, dann sind wir besonders gefährdet.« Werde die Demokratie angegriffen, gelte der Angriff auch den Juden. In der Pandemie habe sich gezeigt, dass sich die Wut einerseits gegen die politische Elite, aber auch gegen das Judentum und die jüdische Existenz in Deutschland gerichtet habe: »Das besorgt mich zutiefst.«
Yael Kupferberg teilte auch eine eigene Erinnerung an den November 1989: »Ich war in der fünften Klasse, also elf Jahre alt, und am Morgen kam unser Vater zu uns und meinte: (…) Wir müssen hier weg. Deutschland wird wieder groß, Deutschland wird sich auf seine nationalistischen, chauvinistischen Traditionen berufen, jetzt hält uns hier nichts mehr.«
Gegen 13 Uhr wurde die Tagung abgebrochen. Bundespräsident Steinmeier gab den geschockten Zuhörern den Tod von Werner Schulz bekannt. Der 72-Jährige war zuvor außerhalb des Großen Saals im Schloss Bellevue zusammengebrochen. Der Bundespräsident dankte Josef Schuster, der auch Arzt ist, für seine Hilfe bei den Reanimierungsbemühungen, die leider nicht zum Erfolg geführt hätten.
SCHWEIGEMINUTE Mit einer Schweigeminute erinnerten die Teilnehmer und Gäste an den plötzlich Verstorbenen. Am Nachmittag kondolierte der Bundespräsident Monika Schulz, der Frau von Werner Schulz. Als einer der ersten ostdeutschen Abgeordneten im Deutschen Bundestag sei Schulz über Parteigrenzen hinweg hochgeachtet gewesen, sagte Steinmeier: »Wir verlieren einen unserer leidenschaftlichsten Politiker, der sich seine Unabhängigkeit bewahrte und auch dort Stellung bezog, wo es unbequem war. Früh hat er auf die wachsende Bedrohung der russischen Opposition, auf den wachsenden Nationalismus des Systems Putin hingewiesen.«
Zentralratspräsident Schuster teilte mit: »Unsere Gedanken sind bei der Familie von Werner Schulz. Wir haben Werner Schulz stets als einen engagierten Demokraten erlebt, der die Freiheit liebte und an der Seite der jüdischen Gemeinschaft für Menschenrechte eingetreten ist.«
Ein Mitschnitt der Tagung findet sich auf www.bundespraesident.de.