Als sich am 19. Juli 1950 eine Gruppe jüdischer Repräsentanten aus ganz Deutschland in Frankfurt am Main traf, um den Zentralrat der Juden zu gründen, ging es vermutlich nicht sehr feierlich zu. Die Gründungsmitglieder fanden sich in einer privaten Wohnung ein und saßen, so heißt es, an wackeligen Tischen.
Heute, 70 Jahre später, ist es angebracht, sich die damalige Szenerie vor Augen zu führen: In Städten, die im Krieg zerstört worden waren, beschlossen Juden, deren Leben und Familien zerstört worden waren, im Land der Täter eine jüdische Dachorganisation für ganz Deutschland zu gründen.
PIONIERE Das Kaddisch von Ravel, das Daniel Hope gleich spielen wird, und auch unser neuer Film, den Sie nach meiner Rede sehen werden, geben die damalige Stimmungslage gut wieder. An dieser Stelle möchte ich den Musikern Isidoro Abramowicz und Daniel Hope sowie der Filmemacherin Friederike Hirschmann herzlich danken!
Auch angesichts der vielen Wiedergründungen jüdischer Gemeinden nach dem Krieg frage ich mich heute noch: Woher nahmen die Menschen damals den Mut und den Optimismus, wieder von vorne anzufangen?
Bis heute verdient diese jüdische Pioniergeneration unsere tiefe Anerkennung und unseren Respekt. Sie legte das Samenkorn, ohne das es heute kein jüdisches Leben in Deutschland gäbe.
Woher nahmen die Menschen damals den Mut und den Optimismus, wieder von vorne anzufangen?
Das Samenkorn für den Zentralrat der Juden legten sie allerdings nicht in der Erwartung, dass wir heute unser 70-jähriges Bestehen feiern. Es war keine auf Dauer angelegte Institution. Vielmehr ging es darum, den in Deutschland gestrandeten Juden weiterhin bei der Ausreise zu helfen und – solange Juden in Deutschland lebten – ihre Interessen möglichst gut zu vertreten.
TÄTER Obwohl die langfristige Perspektive fehlte, müssen wir festhalten: Die Gründerinnen und Gründer der Jüdischen Gemeinden und des Zentralrats der Juden gaben Deutschland einen riesigen Vertrauensvorschuss.
Beide deutschen Staaten, die sich 1949 neu gründeten, waren auf allen politischen Ebenen, in den Behörden, in der Justiz, in den Schulen und Universitäten durchsetzt mit Tätern, mit Menschen, die kurz zuvor noch Träger des nationalsozialistischen Unrechtsregimes gewesen waren.
Das Vertrauen, das die Juden in Deutschland gesetzt hatten, wurde im Laufe der Jahrzehnte und bis heute leider immer wieder erschüttert.
Doch gerade jene deutschen Juden, die ab 1945 in ihre alte Heimat zurückkehrten, fühlten sich noch immer in diesem Land verwurzelt. Deshalb waren sie bereit, den Vertrauensvorschuss zu geben.
Wie fest verankert das Judentum in Deutschland vor dem Holocaust gewesen ist, können Sie an diesem Ort hier nachvollziehen.
Die Sockel der Säulen zwischen den Stuhlreihen sowie die Rundung der Bima hinter Ihnen verdeutlichen, wie groß die Synagoge hier in der Oranienburger Straße war. Die weithin strahlende gold-blaue Kuppel versinnbildlichte den Stolz des jüdischen Bürgertums von Berlin. Geblieben ist allerdings nur ein ganz kleiner Teil des ehemaligen Gebäudes – heute Sitz der Verwaltung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und des Centrum Judaicum.
Es ist zugleich sehr viel Fantasie nötig, um sich die einstige Größe vorzustellen. Und so steht dieser Platz hier eben auch für das, was verloren gegangen ist.
VERBRECHEN Wer die Zerstörung von damals vor Augen hat, wird dem früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zustimmen, der rückblickend über die Gründung des Zentralrats der Juden sagte:
»Dem jüdischen Leben nach den grauenvollen Verbrechen der Nationalsozialisten wieder eine Heimat in Deutschland zu verschaffen – 1950 muss dies eine völlige Utopie gewesen sein.«
Das Vertrauen, das die Juden in Deutschland gesetzt hatten, wurde im Laufe der Jahrzehnte und bis heute leider immer wieder erschüttert. Ich will nur kursorisch ein paar Ereignisse in Erinnerung rufen:
1959 wurde die Kölner Synagoge nur drei Monate nach ihrer Wiedereröffnung von Rechtsextremisten mit antisemitischen Schmierereien geschändet. Es folgte eine Welle ähnlicher Vorfälle in ganz Deutschland.
Bei einem Brandanschlag 1970 auf das jüdische Altersheim in München kamen sieben Menschen ums Leben. Die Täter wurden nie ermittelt.
1980 erschoss ein Rechtsextremist den jüdischen Verleger Shlomo Lewin und dessen Lebensgefährtin in Erlangen.
Zwei Jahre später starb ein 14 Monate altes Mädchen an seinen Verletzungen nach einem Anschlag auf ein israelisches Restaurant in Berlin.
1994 stand die Lübecker Synagoge nach einem rechtsextremen Brandanschlag in Flammen.
Nein. Die Zuneigung der jüdischen Gemeinschaft zu ihrer Heimat Deutschland ist keine Einbahnstraße.
Im Jahr 2000 kam es zum Bombenanschlag in Düsseldorf-Wehrhahn, bei dem zehn Menschen verletzt wurden. Kurz später warfen zwei muslimische Männer Molotowcocktails auf die Synagoge in Düsseldorf.
2012 wurde Rabbiner Daniel Alter in Berlin auf der Straße angegriffen und schwer verletzt.
Und schließlich vor fast einem Jahr, am 9. Oktober 2019, der Anschlag auf die Synagoge in Halle, bei dem nur sehr knapp ein Blutbad verhindert wurde, jedoch zwei Menschen ums Leben kamen.
EINSEITIG In seiner Rede zum 50-jährigen Bestehen des Zentralrats stellte der damalige Präsident Paul Spiegel sel. A. nüchtern fest: »Die Liebe der Juden zu Deutschland hat sich auf Dauer eben nur als eine einseitige Liebe herausgestellt.«
Paul Spiegel bezog seine Aussage auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und die Schoa.
Heute müssen wir fragen: Handelt es sich noch immer um eine einseitige Liebe? Ich würde trotz allem sagen: Nein. Die Zuneigung der jüdischen Gemeinschaft zu ihrer Heimat Deutschland ist keine Einbahnstraße. Die Mehrheit der Bevölkerung steht hinter uns. Ebenso die etablierten Parteien.
In die jüdische Gemeinschaft hat sich daher ein Unbehagen eingeschlichen.
Und ganz besonders möchte ich das seit Jahren herausragende Engagement der Bundeskanzlerin hervorheben. Es ist uns eine Ehre und große Freude, sehr geehrte Frau Merkel, dass Sie heute den Festvortrag halten!
Doch insgesamt könnte die Liebe – um Paul Spiegels Worte noch einmal aufzugreifen – zu uns Juden größer sein. Oder zumindest der Respekt.
Daran fehlt es immer häufiger. In die jüdische Gemeinschaft hat sich daher ein Unbehagen eingeschlichen.
UNBEHAGEN Es ist ein Unbehagen, das dazu führt, den Davidstern an der Halskette ab und zu lieber unter dem Pullover verschwinden zu lassen.
Ein Unbehagen, weshalb die Mutter ihrem Sohn rät, das Israel-T-Shirt nicht in die Schule anzuziehen.
Ein Unbehagen, das jemanden an Jom Kippur zur Arbeit gehen lässt, anstatt dort um einen freien Tag zu bitten und sich damit als Jude zu outen.
Neben den schlimmen antisemitischen Vorfällen sind es die kleinen Ausgrenzungen, die viele Juden regelmäßig erleben, die uns Sorgen machen. Leise stellt sich die Frage, wie sicher wir in diesem Land noch leben können.
Im Internet kursieren die wirrsten Verschwörungsmythen, die die Juden als Verursacher des Virus sehen.
Denn auch die offiziellen Zahlen sind nicht ermutigend. Im vergangenen Jahr registrierte die Polizei mehr als 2000 antisemitische Straftaten. Das war eine Rekordzahl in den vergangenen 20 Jahren.
Und in diesem Jahr wird die Statistik nicht viel besser aussehen. Denn die Corona-Krise wirkt in dieser Hinsicht wie ein Katalysator. Im Internet kursieren die wirrsten Verschwörungsmythen, die die Juden als Verursacher des Virus sehen. Die kruden Vorstellungen spiegeln sich schließlich in unsäglicher Symbolik auf den Corona-Demos wider.
Wegen der Auflagen stilisieren sich Demonstranten als Anne Frank. Sie sehen sich als Verfolgte und heften sich den gelben »Judenstern« der Nazi-Zeit ans Revers.
MYTHEN Ich kenne einige alte Menschen, die diesen Stern damals tragen mussten. Menschen, die Jahre im Versteck ausharren mussten. Menschen, die nur knapp überlebt haben. Es sind übrigens Menschen, die die Corona-Auflagen tapfer hinnehmen und keinen Grund sehen, sich darüber zu beschweren.
Ich wäre froh, wenn sie diese widerliche Instrumentalisierung ihrer Schicksale auf den Demonstrationen gar nicht mitbekommen würden!
Was zeigen uns diese Auswirkungen der Corona-Krise? Die Verschwörungsmythen und die gelben Sterne? Sie zeigen uns, dass 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine Sensibilität gegenüber den NS-Opfern und ein Verständnis der damaligen Situation fehlen. Letztlich wird auch deutlich: Das Gedankengut der Nazis ist noch immer nicht verschwunden.
Antisemitische Vorurteile werden – ob bewusst oder unbewusst – über Generationen weitergegeben. Sie finden sich heute in vielen Milieus und unterschiedlichen Formen in unserer Gesellschaft wieder. Stets schwingt mit, dass Juden als etwas gesehen werden, das nicht dazu gehört. Diese Vorurteile werden heutzutage besonders gern auf Israel übertragen beziehungsweise Israel muss dafür herhalten, diese Vorurteile weiter zu pflegen.
In einem toleranten und gerechten Land möchten wir alle leben. Dafür müssen wir gemeinsam etwas tun.
Als Zentralrat der Juden betrachten wir es als unsere Aufgabe, diesen Antisemitismus auch als solchen zu benennen, egal, wo er auftaucht: ob in Schulbüchern, in Theaterstücken, in Reden von Politikern oder Werken eines Wissenschaftlers.
Die seit Wochen laufende Antisemitismus-Debatte möchte ich heute nicht vertiefen. Ich möchte jedoch an die Wortführer appellieren, einen Gang zurückzuschalten.
ISRAEL Ihre Zwischenrufe werden nicht nur von anderen Intellektuellen wahrgenommen, sondern sie sickern über die sozialen Medien in Kreise, die sich dann in ihrer Ablehnung Israels und letztlich in ihrem Antisemitismus bestätigt fühlen.
Und anstatt noch mehr Kraft in diese Debatte zu stecken, sollten mehr Gedanken darauf verwendet werden, wie wir Antisemitismus, Rechtsextremismus und Rassismus tatsächlich nachhaltig bekämpfen können.
Nach der Mord-Serie des NSU, dem Mord an Walter Lübcke, den Anschlägen von Halle und Hanau sowie den rechtsextremistischen Vorfällen in Bundeswehr und Polizei brauchen wir wahrlich keine Beweise mehr, dass es gesellschaftliche Missstände gibt in diesem Land.
Und da wir in diesem Jahr auch den 75. Jahrestag der Befreiung begehen, möchte ich an dieser Stelle Schoa-Überlebende selbst zu Wort kommen lassen.
Im Jahr 2009 veröffentlichten die damaligen Präsidenten der Internationalen Häftlingskomitees der deutschen Konzentrationslager einen Text, den sie uns allen als Vermächtnis hinterlassen haben. Darin heißt es:
FREIHEIT »Nach unserer Befreiung schworen wir, eine neue Welt des Friedens und der Freiheit aufzubauen: Wir haben uns engagiert, um eine Wiederkehr dieser unvergleichlichen Verbrechen zu verhindern. (...) Gerade deshalb schmerzt und empört es uns sehr, heute feststellen zu müssen: Die Welt hat zu wenig aus unserer Geschichte gelernt. (…) Die letzten Augenzeugen wenden sich an Deutschland (…). Wir bitten die jungen Menschen, unseren Kampf gegen die Nazi-Ideologie und für eine gerechte, friedliche und tolerante Welt fortzuführen (…).«
Heute, 75 Jahre nach der Schoa, ist die jüdische Gemeinschaft erneut bereit, Deutschland, unserem Zuhause, einen Vertrauensvorschuss zu geben.
In einem toleranten und gerechten Land möchten wir alle leben. Dafür müssen wir gemeinsam etwas tun.
Heute, 70 Jahre nach der Gründung des Zentralrats der Juden, blickt die jüdische Gemeinschaft trotz allem auch mit einem gewissen Stolz auf die vergangenen Jahrzehnte zurück.
Allein in jüngster Zeit haben wir in Düsseldorf, München und Frankfurt jüdische Schulen eröffnet beziehungsweise erweitert. In Konstanz, Koblenz und Dessau wurden und werden neue Synagogen gebaut.
Heute, 75 Jahre nach der Schoa, ist die jüdische Gemeinschaft erneut bereit, Deutschland, unserem Zuhause, einen Vertrauensvorschuss zu geben.
Es ist in unser aller Interesse, dass dieses Vertrauen nicht enttäuscht wird!