Ukraine

Stimme der Freiheit

Präsident Wolodymyr Selenskyj Foto: imago images/ZUMA Press

»Die Ukrainer haben der Welt gezeigt, wer wir sind.« Auch in der am Montagmorgen veröffentlichten Videoansprache gab sich der ukrainische Präsident entschlossen. »Die Europäer wissen, dass unsere Soldaten für unser Land kämpfen und letztlich auch für ganz Europa«, betonte Wolodymyr Selen­skyj. »Sie kämpfen für den Frieden in allen Ländern der Europäischen Union, für das Leben der Kinder, für Gleichheit und Demokratie.«

Selenskyj nutzte auch an diesem fünften Kriegstag die Kraft der Bilder und Worte – und der sozialen Medien. Mit Erfolg. Die Tageszeitung »Die Welt« bescheinigte dem 44-Jährigen: »Die mächtigste Waffe der Ukraine ist ihr Präsident«. »Der Spiegel« bezeichnet ihn als »Verteidiger der Freiheit«. Bevor er Präsident der Ukraine wurde, war er Komiker. So richtig ernst hatten ihn nur wenige genommen, Wladimir Putin schon gar nicht. Ein großer Fehler. Denn Selen­skyj wächst im Krieg über sich hinaus.

symbolfigur Binnen weniger Tage wurde er von einem mittelmäßig beliebten Präsidenten, der 2019 als wohl bekannteste Fernseh­figur seines Landes ins Amt kam, zu einer Symbolfigur im Kampf um Freiheit und Demokratie – und zu einem veritablen Gegenspieler des russischen Präsidenten.

Seit dem Überfall auf sein Land wandte sich Selenskyj immer wieder in Videoansprachen an seine Bevölkerung.

Seit dem Überfall auf sein Land wandte sich Selenskyj immer wieder in Videoansprachen an seine Bevölkerung. Als Medien am vergangenen Sonntag meldeten, russische Truppen hätten Kiew eingekesselt, es würde nur noch Stunden dauern, bis die Hauptstadt fallen würde, zeigte sich Selenskyj kämpferisch und betonte seinen Durchhaltewillen: »Ich bin hier.« Dabei ist seine eigene Sicherheit erheblich gefährdet: Schon kurz nach Kriegsbeginn sagte er, Russland habe ihn »zum Ziel Nr. 1 erklärt – meine Familie zum Ziel Nr. 2«. Dennoch wolle er das Land nicht verlassen.

Die Politologin Olga Onuch meint, Selenskyjs Taktik besteht darin, so ruhig wie möglich zu bleiben. Dies spiegele gut die Stimmung in der Bevölkerung wider, sagte sie der »Neuen Zürcher Zeitung«: »Wenn du schon die Situation nicht kontrollieren kannst, kannst du wenigstens vermeiden, deine Familie und Freunde in Panik zu versetzen.«

propaganda In der Nacht des russischen Angriffs veröffentlichte er eine denkwürdige, an die Bürger Russlands gerichtete Ansprache. Selenskyj ging darin auf das Propaganda-Narrativ des Kremls ein, die Ukraine müsse »entnazifiziert« werden: »Man sagt Ihnen, wir seien Nazis. Aber kann denn ein Volk den Nazismus unterstützen, das für den Sieg gegen den Nazismus mehr als acht Millionen Menschen verloren hat?«, fragte er in seiner größtenteils auf Russisch gehaltenen Rede.

»Ich brauche Munition, kein Flugticket«, sagt Selenskyj.

Er, ein Nazi? »Erzählen Sie davon meinem Großvater. Er hat im gesamten Zweiten Weltkrieg in der Infanterie der Roten Armee gedient. Er starb als Oberst in der unabhängigen Ukraine.« Selenskyj vermied es in diesem Moment, seine jüdische Herkunft zum Thema zu machen. Sein Judentum versteckt er aber keineswegs. Er sei, erzählte Selenskyj 2020 in einem Interview, in einer »gewöhnlichen sowjetisch-jüdischen Familie aufgewachsen«.

Väterlicherseits haben sein Großvater und dessen drei Brüder im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee gedient. Nur sein Großvater war zurückgekommen. Seine Großmutter war im Krieg nach Kasachstan evakuiert worden. Alle Juden, die in Krywyj Rih geblieben waren, wurden ermordet. Seine Großmutter sei nach dem Krieg in ihre ukrainische Heimatstadt zurückgekehrt, erklärte Selenskyj: »Dort wurde ich geboren.«

helden Am 9. Mai 2019, dem »Tag des Sieges« über Nazi-Deutschland, postete Selenskyj, damals frisch gewählter Präsident der Ukraine, ein Foto auf Facebook, das ihn in Krywyj Rih am Grab seines Großvaters, Semjon Selenskyj, zeigt. Unter das Foto schrieb er, der Großvater »blieb für immer in meiner Erinnerung einer jener Helden, die die Ukraine vor den Nazis verteidigten«. Der 9. Mai sei, so Selenskyj damals, ein Tag des Dankes – an die Menschen, »die gegen den Nazismus gekämpft haben und siegten«. Der Dank gelte dafür, »dass die menschenverachtende Ideologie des Nazismus der Vergangenheit angehört«.

Nachdem am Dienstag russische Raketen auch die Schoa-Gedenkstätte Babyn Jar getroffen hatten, schrieb Selenskyj auf Twitter: »An die Welt: Was bringt es, 80 Jahre lang ›Nie wieder‹ zu sagen, und dann schweigt man, wenn eine Bombe auf Babyn Jar abgeworfen wird? Mindestens fünf Todesopfer. Geschichte wiederholt sich.«

Es gehört sehr viel Mut dazu, Putins Gegenspieler zu sein.

Selenskyj ist die Stimme der Freiheit: auch weil er eine jüngere Generation repräsentiert, die nach dem Zerfall der Sowjetunion vor allem die Chancen sah, während Putin von der »größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts« spricht und dem Imperium nachtrauert.

pluralität Es ist Selenskyj, der die bei Weitem nicht selbstverständliche Pluralität, die die Ukraine seit der Unabhängigkeit 1991 mühsam errungen hat und immer weiterverhandelt, seit dem Überfall zu verteidigen versuchte – aus Kiew. Trotz der offensichtlichen Gefahr für Leib und Leben schlug er amerikanische Evakuierungsangebote aus: »Der Kampf ist hier. Ich brauche Munition, kein Flugticket.«

Es gehört sehr viel Mut dazu, Putins Gegenspieler zu sein – von dem hohen Preis dieser Courage künden unter anderem die Schicksale von Michail Chodorkowski und Alexej Nawalny. Jetzt, wo Putin die gesamte europäische Nachkriegsordnung gewaltsam infrage gestellt hat, zeigt sich die Ukraine samt ihrem Präsidenten als beispielhaft standhaft.

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