Pro
Hätte man sich in den 90er-Jahren dafür entschieden, einen Gedenkort für alle Opfer des NS-Regimes in Berlin-Mitte zu schaffen, einen Ort, an dem nicht nur der Juden, sondern auch der Sinti und Roma, der Schwulen, der ermordeten Kommunisten, der Bibelforscher und anderer Verfolgter gedacht würde, dann würden sich nicht die unguten Gefühle einstellen, die uns gegenwärtig beschleichen. Die Frage, wer gedenkt wessen und zu welchem Zweck, ist zu keinem Zeitpunkt befriedigend beantwortet worden.
Mittlerweile haben wir uns an die Nachrichten gewöhnt, dass alkoholisierte »Besucher« mit Bierflaschen auf dem Gelände herumtanzen und zwischen den Stelen ihre Notdurft verrichten. Auch der »Quickie« eines übermütigen Paares soll dort schon beobachtet worden sein. Was könnte noch folgen: bunte Graffiti, Molotowcocktails oder Picknick-Partys? Vermutlich müssen wir uns noch auf einiges gefasst machen.
Der Initiativkreis für das Mahnmal hatte einst nach wirksameren Formen des Holocaust-Gedenkens gestrebt als ritualisierte Gedenkveranstaltungen an öffentlichen Plätzen. Doch blieb in der hitzigen Kontroverse bis zuletzt der Sinn und Zweck eines zentralen Holocaust-Mahnmals umstritten.
Aber was kann real getan werden, um die Würde des Ortes doch noch zu gewährleisten? Peter Eisenman, der Architekt, wollte seinerzeit nicht, und das zu Recht, dass das Stelenfeld von Wachleuten geschützt wird, denn es wäre tatsächlich der Gipfel der Geschmacklosigkeit, an den vier Ecken des Geländes Wachtürme zu errichten und elektrisch geladene Stacheldrahtzäune um die 2700 Stelen zu ziehen.
Aber irgendetwas muss geschehen. Denn die Bilder der jüngsten Silvesternacht, in der das Mahnmal durch an den Stelen urinierende Betrunkene geschändet wurde, sind um die Welt gegangen. Allerorten dürfte man sich fragen, was in die Deutschen gefahren ist: Zunächst bauen sie ein Mahnmal der Superlative, doch danach sind sie unfähig, die Würde des Ortes sicherzustellen.
Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Juden – das wurde im Mahnmal-Streit immer wieder betont – brauchen diesen Ort des Gedenkens und Mahnens nicht. Denn, und darauf kommt es an, entscheidend ist für sie nicht der Ort, sondern entscheidend sind für sie Zeit und Stunde, wie es im Buch Kohelet heißt.
An Pessach, am Sederabend, isst man nicht nur Mazze und Kneidlach, sondern erinnert sich wegen des Satzes »Bechol dor wador«, dass in jeder Generation der Mensch verpflichtet ist, »sich zu sehen, als sei er selbst aus Ägypten gezogen«. Das Erinnern ist, wenn man so will, eine sehr jüdische Angelegenheit. Das Erinnern hat seine Zeit – aber, wie gesagt, nicht unbedingt einen Ort. Man kann deshalb sagen, Jom Haschoa ist jüdisch, das Holocaust-Mahnmal eher nicht.
Julius H. Schoeps ist Historiker und Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam.
Contra
Das Berliner Holocaust-Denkmal hat kein Namensschild, keine Grusel-Zutaten und keine Opfer-Darstellungen. Es ist reine Architektur. Das ist seine Schwäche und Stärke zugleich. Dass Besucher, die ignorant, ungebildet, unreif oder gedankenverloren sind, es als Sitzbank, Raucherecke, Abenteuerspielplatz oder Hüpfburg betrachten, ist bedauerlich, aber Peter Eisenmans Entwurf ist stark genug, dies zu ertragen. Der Architekt betont, dass sein Denkmal nicht »fool-proof« (»idiotensicher«) sein kann – und will.
Recht hat er. Das Denkmal ist offen: Jeder kann hinein – ohne Vorwarnung, ohne Eintrittskarte, ohne ein Tor zu passieren. Es saugt Menschen hinein und kommt ohne Kitsch, ohne schnell verblassende Bilder, ohne Rhetorik, sogar ohne Narration aus – und ist dennoch ein Denkmal, das schon Hunderttausende beeindruckt, räumlich gefangen genommen und mitunter auch zum Denken und Fühlen angeregt hat – beim Spaziergang vom Potsdamer Platz zum Stadtrundfahrtbus am Brandenburger Tor.
Diese Offenheit, dieses »en passant«, hat seinen Preis – aber den zahlt der Entwurf aus der Portokasse. Das Denkmal ist populär im besten Sinne. Es gehört zum Zentrum des Neuen Berlin – ein jüdischer Friedhof für Millionen Tote mitten im Herzen der Stadt. Das Denkmal ist kein »würdevoller Ort« und eignet sich nicht für Kranzniederlegungen von Politikern oder als Ort für große Reden. Stattdessen kann man sich nicht sattsehen am weiten Feld aus Stelen. Es nutzt sich nicht ab wie ein Bild.
Das Schoa-Gedenken wird immer abstrakter, weil die letzten Zeitzeugen sterben. Die Ära des »Post-Zeitzeugen-Gedenkens« läutet das Mahnmal gekonnt ein. Es wird auch in vielen Jahren noch Menschen beeindrucken, egal ob jung oder alt, intelligent oder dumm. Natürlich ist das Denkmal auf eine Art »gescheitert« – es kann und will auch gar nicht anders. Der Holocaust ist nicht in Architektur zu übersetzen. Aber Eisenmans Denkmal war erfolgreich als Prozess für die deutsche Gesellschaft und ist es auch als Platzhalter für ein Gedenken, das allein im Kopf und im Herzen stattfinden kann und nicht auf öffentlichen Plätzen.
Die ästhetische Werthaltigkeit des Mahnmals übersteigt seine physische. Selten hat abstrakte, zeitgenössische Architektur ein so breites Publikum angesprochen. Horden von Besuchern suchen das Erlebnis, einzutauchen und sich von ihm umgeben zu lassen. Statt auf Bilder setzt es auf körperliche Erfahrung. »Es wäre falsch, wenn der Holocaust zum Symbol würde, das wir verstehen und einordnen können. Denn es gibt keine Wahrheit und keinen Sinn zu beschreiben. Der Stelenwald vermeidet Gewissheiten und wirft uns auf uns selbst zurück. Der Maßstab des Holocaust macht den Versuch aussichtslos, ihn mit traditionellen Mitteln zu repräsentieren«, so Eisenman. Diese Worte gelten weiter.
Ulf Meyer ist Architekturjournalist in Berlin. Er hat in Berlin und Chicago Architektur studiert und in Japan, den USA und Taiwan gelehrt und gearbeitet.