Antisemitismus

Spucken und Strafen

Nach der Attacke auf den Berliner Rabbiner Yehuda Teichtal solidarisierte sich auch Heiko Maas. Foto: Gregor Zielke

Am 20. Juni besuchten der Hamburger Landesrabbiner Shlomo Bistritzky und Eliezer Noe, ein Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde, das Rathaus. Im Foyer wurden sie von einem 45-jährigen Marokkaner mit »Schalom« begrüßt und anschließend verbal bedroht. Als die beiden sich ihm zuwandten, bemerkten sie etwas, das wie ein Messer aussah. Anschließend ging der Mann mit einem Feuerzeug auf sie zu, heißt es in Medienberichten.

Die Tat, die nach einem Empfang für Schoa-Überlebende erfolgte, ist kein Einzelfall. Sie ist vielmehr ein Angriff von vielen, die sich in den vergangenen Wochen zutrugen: Ende Juli wurde ein 25-Jähriger, der eine Kippa trug, am Potsdamer Hauptbahnhof beleidigt und angespuckt. Die mutmaßlichen Täter waren zwei Syrer.

Anfang August wurden im Münchner Stadtteil Schwabing ein Rabbiner und seine Söhne nach dem Besuch der Synagoge beschimpft und bespuckt. Nach Angaben der Süddeutschen Zeitung seien die Täter ein »hochdeutsch sprechender Mann und eine orientalisch aussehende Frau« gewesen. In Berlin wurde der Rabbiner Yehuda Teichtal in Begleitung eines seiner Kinder von zwei Männern auf Arabisch beschimpft und dann bespuckt.

Die Täterin in München konnte die Polizei ermitteln, sie bestreitet nach Angaben der Polizei sowohl antisemitische Beschimpfungen als auch das Spucken. In Hamburg verweigert der Täter die Aussage; die Polizei teilt auf Anfrage der Jüdischen Allgemeinen mit, dass sich bei weiteren Ermittlungsmaßnahmen Anhaltspunkte für eine »psychische Instabilität des Beschuldigten« verdichtet hätten. Die Polizei in Berlin ermittelt gegen zwei Unbekannte und sucht weiter nach den Tätern.

VOLKSVERHETZUNG Während in Hamburg und Berlin die Polizei dem Verdacht auf Beleidigung nachgeht, ermittelt sie in München wegen des Verdachts auf Beleidigung und Volksverhetzung.

Allen Fällen ist gemeinsam, dass die Betroffenen durch ihre Kleidung klar als Juden zu erkennen waren. Eine Kippa oder die Kleidung eines Rabbiners zu tragen, ist in diesem Sommer in Deutschland nicht ungefährlich. Um angegriffen zu werden, müssen sich Juden nicht einmal in den von muslimischen Einwanderern bevorzugt bewohnten Vierteln aufhalten.

»Gerichte schöpfen das Strafmaß oft nicht aus«, meint Sigmount Königsberg, Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

Für Sigmount Königsberg, den Antisemitismusbeauftragen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, sind die Angriffe auf Menschen, die klar als jüdisch zu erkennen sind, auch eine Konsequenz aus den Urteilen, die in der Vergangenheit ergangen sind: »Die Gerichte schöpfen das Strafmaß oft nicht aus, entscheiden sich für das Jugend- statt das Erwachsenenstrafrecht oder bestreiten gar den antisemitischen Charakter der Tat.«

So war der Brandanschlag auf die Wuppertaler Synagoge durch zwei Palästinenser 2014 für das Gericht keine antisemitische Straftat, sondern nur ein Protest gegen die Politik Israels. Dass die Synagoge keine Einrichtung des Staates Israel war, störte die Richter bei ihrer Entscheidung so wenig wie die Brandstifter.

Königsberg erinnert auch an einen Vorfall in jüngster Zeit in Berlin: »Der Gürtelschläger vom Prenzlauer Berg kam mit vier Wochen Jugendarrest davon. Mit seinen damals 19 Jahren wäre auch ein härteres Urteil nach dem Erwachsenenstrafrecht möglich gewesen.«

STAATSANWÄLTE Von solchen Urteilen geht nach Ansicht des Antisemitismusbeauftragten der Berliner Gemeinde ein Zeichen aus: »Staatsanwälte orientieren sich an solchen Urteilen bei ihrer Strafanforderung. Kein Staatsanwalt will einen Prozess verlieren.«

Umgekehrt hingegen verhalte es sich mit dem Umgang der Gerichte, wenn es um den Vorwurf des Antisemitismus geht. »Weil das Gericht der Ansicht war, dass Antisemitismus in Deutschland ein schwerwiegender Vorwurf ist, darf der Sänger Xavier Naidoo nicht als Antisemit bezeichnet werden«, erinnert Königsberg. »Obwohl im Prozess klar herausgearbeitet wurde, dass einige seiner Liedtexte antisemitische Klischees bedienen.« Eine Referentin der Amadeu Antonio Stiftung unterlag gegen den Musiker, weil »struktureller Antisemitismus« nach Ansicht der Richter nicht nachgewiesen werden konnte. Für Königsberg ist klar: »Die Richter haben die Tendenz, die Täter mehr zu schützen als die Angegriffenen.«

ÄCHTUNG Das sieht der Hamburger Rechtsanwalt Oliver Tolmein etwas anders: »Ich bin da vorsichtiger, denn dazu ist die Empirie zu dürftig. Es gibt keine Studien zu diesem Thema, was auch daran liegt, dass wir in Deutschland nur wenig Rechtstatsachenforschung haben. Aber es kommt vor, dass Richter eher Verständnis für antisemitisch handelnde Täter entwickeln, als deren Opfer zu schützen – und das ist schlimm.« Überraschend sei das alles nicht: »Wir haben leider keine Justiz, von der man sagen kann, dass sie insgesamt zuverlässig Gewähr bietet, Antisemitismus konsequent zu verfolgen.«

Von Forderungen, ausländische Täter nach antisemitischen Straftaten aus Deutschland abzuschieben, hält Tolmein nichts: »Deutschland ist bekanntermaßen kein Land, von dem man sagen kann, dass Antisemitismus aus der Fremde importiert worden ist.« Es zeige sich ja auch in der deutschen Realität, dass Antisemitismus hier nach wie vor eine relevante Verbreitung habe. »Wir müssen uns deswegen mit Antisemitismus auseinandersetzen und ihn ahnden – unabhängig davon, ob ein Täter deutscher Staatsbürger ist oder nicht.«

Am wichtigsten sei es dabei jedenfalls, nicht immer härtere Strafen zu fordern oder gar eine Verschärfung von Gesetzen. »Entscheidend ist«, so Tolmein, »dass unsere Gesellschaft Antisemitismus konsequent ächtet.«

Meinung

Entfremdete Heimat

Die antisemitischen Zwischenfälle auf deutschen Straßen sind alarmierend. Das hat auch mit der oftmals dämonisierenden Berichterstattung über Israels Krieg gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas zu tun

von Philipp Peyman Engel  16.10.2025

Washington

Trump droht Hamas mit dem Tod

Die palästinensische Terrororganisation will ihre Herrschaft über Gaza fortsetzen. Nun redet der US-Präsident Klartext

von Anna Ringle  16.10.2025

Erinnerung

Gedenken an erste Deportationen aus Berlin am »Gleis 17«

Deborah Hartmann, Direktorin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, warnte mit Blick auf das Erstarken der AfD und wachsenden Antisemitismus vor einer brüchigen Erinnerungskultur

 16.10.2025

Jakarta

Zwischen Schalom und Boykott

Staatschef Subianto hatte zuletzt Friedensbotschaften an Israel ausgesendet. Bei den Turnweltmeisterschaften in Jakarta sind israelische Sportler hingegen nicht willkommen

von Michael Thaidigsmann  16.10.2025

Hamburg

Zeuge vermittelte Kontakt vor Entführung der Block-Kinder

Wie kamen die mutmaßlichen Entführer in Kontakt mit der Familie Block? Diese Frage beschäftigt das Landgericht Hamburg derzeit im Prozess. Eine israelische Sicherheitsfirma spielt weiterhin eine Rolle

von Stephanie Lettgen  16.10.2025

Meinung

Amichai Chikli: Ein Minister gegen die Diaspora

Statt die Beziehungen zu den Juden außerhalb Israels zu pflegen, gefährdet der Diasporaminister diese. Jüngstes Beispiel: Auf Einladung des Likud-Politikers besucht derzeit der britische Rechtsextremist Tommy Robinson den jüdischen Staat

von Ruben Gerczikow  16.10.2025

Nachruf

Freund der Freiheit, Freund Israels

Richard Herzinger war ein lebenslanger Streiter gegen Autoritarismus und Antisemitismus. Nun ist der Publizist und Ausnahme-Intellektuelle im Alter von 69 Jahren gestorben

von Marko Martin  16.10.2025

Nahost

Trump zeigt Verständnis für mutmaßliche Hamas-Hinrichtungen

Videos sollen zeigen, wie Hamas-Mitglieder brutal mit Rivalen abrechnen. In Ramallah spricht man von »abscheulichen Verbrechen«. Israel sieht aus anderen Gründen einen Verstoß gegen die Waffenruhe

 16.10.2025

Hochschulen

Jüdische Studenten fordern mehr Schutz vor Antisemitismus

Seit dem 7. Oktober hat der Antisemitismus an Hochschulen deutlich zugenommen. Was können Universitäten tun? Die JSUD hat einen Katalog veröffentlicht

von Nikolas Ender  16.10.2025