Der Konflikt in der Ostukraine schwelt seit Jahren. Einfache Menschen waren und bleiben Geiseln einer kurzsichtigen und menschenverachtenden Politik. Von zivilen Opfern oder dem Tod von Militärangehörigen zu hören, ist unerträglich schmerzhaft. Dieser Schmerz betrifft nicht nur Familien aus der Ukraine, sondern auch Familien aus Russland, die manchmal nicht nur durch freundschaftliche, sondern auch durch familiäre Bindungen miteinander vermischt sind. Dies gilt für fast alle Mitgliederinnen und Mitglieder unserer Gemeinde. Wir beten um Frieden für alle, die von diesem Krieg betroffen sind. Wir beten für unsere Glaubensschwestern und Glaubensbrüder dort, die sich unwissentlich auf gegenüberliegenden Seiten der Barrikaden wiederfinden! Wir beten, dass die Weltpolitik genug Verstand und Kraft hat, um die Konfliktparteien wieder an den Tisch effektiver Verhandlungen zu bringen. Das Einzige, was die Menschheit braucht, ist Frieden und das Glück der Kinder!
Küf Kaufmann, Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig und Autor
Ich bin absolut sprachlos. Ukrainer und Russen sind ein Volk, und jetzt schießen sie aufeinander. Ich komme aus Moskau. Zwei Tage, am 22. und 23. Februar, habe ich meine Verwandten dort nicht erreicht. Ich wusste nicht, was passiert ist. Dann haben wir gesprochen, sie unterstützen nicht, dass die russische Armee in die Ukraine einmarschiert, aber sie denken, vielleicht hatte Putin keine andere Wahl? Denn alle Konflikte haben eine Historie. Okay, es gibt das kommunistische System, und es gibt das kapitalistische System. Keiner weiß, was besser ist und für wen. Aber wir denken: Jede westliche Einmischung wird zu einer weiteren Eskalation führen. Putin wollte, dass die Ukraine neutral bleibt. Doch was hat der Westen gemacht? Immer mehr Waffen ins Land gebracht. In den letzten Jahren sind viele Ukrainer nach Europa ausgewandert. Es sind gut ausgebildete Menschen, in Europa arbeiten sie auf niedrigster Ebene, viele schwarz. Ich denke, die Russen und Ukrainer müssen ihre Konflikte selbst lösen. So denken auch meine Verwandten, die im Donbas gelebt haben. Zum Glück sind sie weg, die einen gingen nach Amerika, der andere nach Israel. Die Situation in der Ukraine ist jetzt sehr gefährlich. Eine besondere Tragödie: Viele Familien sind gemischt. Sollen sie jetzt aufeinander schießen? Im Urlaub habe ich ausgewanderte Familien kennengelernt. Sie sagten: »Konflikte gehen immer von den Politikern aus, das Volk will sie nicht.« Von der Ukraine stößt mich die Verherrlichung der Nazi-Verbrecher, die Errichtung von Denkmälern für sie, die Benennung von Straßen und Plätzen nach ihren Namen ab. Das macht mich wirklich krank. Ich verstehe nicht, warum westliche Länder dazu schweigen.
Margarita Volkova-Mendzelevskaya, Konzertpianistin, Stuttgart
Ich bin in der Ukraine geboren und habe dort die ersten acht Jahre meines Lebens verbracht. Meine Vorfahren, soweit ich meinen Stammbaum ins 19. Jahrhundert verfolgen kann, stammen aus der Ukraine. Obwohl ich dieses Land kaum kenne, seine Sprache nicht spreche und bereits 25 Jahre in Deutschland lebe, bin ich dennoch berührt von dem Einmarsch Russlands. Mich betrübt die Sorge um entfernte Verwandte, die Hilflosigkeit des Landes gegenüber einer Übermacht, gegenüber Menschen »die Böses im Herzen ersinnen, die allezeit Krieg anzetteln« (Ps. 140:3). Möge der Ewige allen Kriegen Einhalt gebieten und alle Völker der Erde mit Frieden segnen.
Igor Itkin, Rabbiner, Berlin
Als jemand, der in der Ukraine geboren ist, verfolge ich natürlich den Konflikt. Ich komme aus Donezk, im Donbas, also dem Hotspot des Konflikts, und es fühlt sich immer noch wie Heimat an, obwohl meine Familie und ich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 90er-Jahre nach Israel kamen. Meine ersten Gedanken galten meinem Vater, der damals nicht mit uns kam und auch kein Teil meines Lebens ist. Trotzdem habe ich darüber nachgedacht, was er jetzt wohl macht und ob es ihm gut geht. Ob er sicher ist. Wenn ich das alles so verfolge und auch im Gespräch mit anderen Leuten hier, denke ich, dass der eigentliche Krieg einer zwischen Politikern ist und nicht einer, der von Armeen ausgetragen wird. Aber wer weiß: Vielleicht muss ich ja in naher Zukunft sagen, dass ich in Russland und nicht in der Ukraine geboren wurde?
Alex Margolin, 3-D-Designer, Tel Aviv
Ich stehe gerade vor dem Brandenburger Tor. Bis gestern Abend habe ich das nicht geglaubt. Ich dachte, das sei wieder einmal etwas, um die Leute zu erschrecken. Diese Daten, wann ein Angriff stattfinden würde, wurden ja schon vorher genannt, und das geschah nichts. Um sechs Uhr weckte mich mein Mann, und sagte, dass die Ukraine angegriffen wurde. Ich habe erst einmal meine Mutter angerufen und sie hat mir erzählt, dass sie Explosionen hört. Ich war perplex. Ich habe Angst um sie. Vor Wochen habe ich ihr schon gesagt, dass sie herkommen solle. Sie hat eine Arbeitserlaubnis für Deutschland. Aber sie meinte, dass sie jetzt da sein müsste - mehr als je zuvor. Sie bleibt in der Ukraine, in ihrem Land, wie auch alle ihre Freunde. Sie wollen nicht fliehen. Ich mache mir große Sorgen um sie, aber ich finde es auch sehr vorbildlich, dass sie sich so entschieden hat. Ich hoffe, dass das russische Volk auch anfängt, dagegen etwas zu tun, dass es Bürgerinitiative zeigt, auf die Straßen geht, dagegen spricht. Ich weiß nicht was die Lösung ist. Ich weiß nicht, was morgen kommt, und diese Unwissenheit ist sehr schwer. Man kann nicht vorhersagen, was Putin als nächstes tut. Ich kann nicht sagen, was Deutschland, die USA oder die Ukraine machen soll. Ich traue dem jetzigen ukrainischen Präsidenten, dass er den richtigen Weg findet.
Tascha, Anglerin, Berlin
Die EU-Fahnen bei den Kiewer Demonstrationen 2014, die Rufe nach Demokratie und gegen Korruption – auf einmal wurden Schreie nach Veränderungen laut, nach denen sich auch meine Eltern damals sehnten, als sie 1997 aus Charkiv nach Deutschland emigrierten. Lange Zeit gehörte die Ukraine für sie der Vergangenheit an, zu schmerzvoll waren die Erinnerungen an Antisemitismus und Unterdrückung. Und auf einmal schien sich das Land in eine bessere Richtung zu bewegen. Auch ich fing an, mich für das Land meiner Eltern zu interessieren, reiste hin, entwickelte eine Verbundenheit. Die Mehrheit der jungen Juden in Deutschland sieht sich als Teil der deutschen Gesellschaft, jedoch mit jahrhundertealten Wurzeln in der Ukraine. Viele von uns sind in großer Sorge, fassungslos über die kläglichen Versuche der Bundesregierung, eine friedliche Lösung mit jemandem auszuhandeln, der eine friedliche Lösung gar nicht wollte. Die 5000 versprochenen Helme, die wochenlange Tabuisierung von Nordstream 2 – die diplomatischen Bemühungen der Bundesrepublik sind kläglich gescheitert. Und jetzt herrscht Krieg. Für uns ist es mehr als nur Politik. Es ist eine emotionale Frage: Die Ukraine ist Teil unserer jüdischen Identität.
Lars Umanski, Jura-Student, Berlin
Zusammengetragen von Eugen El, Katrin Richter und Katharina Schmidt-Hirschfelder
Lesen Sie mehr dazu in der kommenden Printausgabe der Jüdischen Allgemeinen.