Die drittgrößte jüdische Gemeinde der Welt existiert in Frankreich, das Land erlebte im 20. Jahrhundert drei jüdische Ministerpräsidenten – und bekommt nächstes Jahr zum ersten Mal ein jüdisches Staatsoberhaupt. Diesen Eindruck erweckt zumindest der Medientrubel, der derzeit um den Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF), Dominique Strauss-Kahn, veranstaltet wird.
präsident Strauss-Kahn, im abkürzungsvernarrten Frankreich nur DSK genannt, war Ende 2007 vom amtierenden Präsident Nicolas Sarkozy auf diesen Posten gehievt worden, um sich eines innenpolitischen Konkurrenten zu entledigen. Dem glücklosen Staatschef muss dieser taktische Winkelzug mittlerweile jedoch wie ein Bumerang vorkommen, denn es wird immer wahrscheinlicher, dass der durch internationale Grandezza geadelte Strauss-Kahn bei den Präsidentschaftswahlen 2012 Sarkozys Herausforderer wird.
61 Prozent der Franzosen würden dem 61-Jährigen nach jüngsten Umfragen ihre Stimme geben. Die Betonung liegt auf dem Konjunktiv, da DSK sich weiterhin ziert, seine Kandidatur bekannt zu geben. So hält er die Medienlandschaft seit Wochen in Atem. »Warten auf DSK« hat sogar die New York Times die derzeitige Situation in Anlehnung an Becketts Theaterstück beschrieben.
abstinenz Es ist für Strauss-Kahn ein riskantes, bislang aber lohnendes Vabanquespiel: Als IWF-Chef ist er zu politischer Neutralität verpflichtet, er wäre seinen derzeitigen Posten los, sobald er – mit ungewissem Ausgang – in den Ring stiege. Zugleich ist just die tagespolitische Abstinenz sein momentan größter Trumpf. Selten war die politische Klasse in Frankreich nämlich als Ganze so diskreditiert wie dieser Tage: Die oppositionellen Sozialisten sind immer noch zerstritten, Präsident Sarkozy und seine Minister haben in den Augen vieler durch unüberlegten Aktionismus, Profilierungswut und Günstlingswirtschaft ihre Ämter entweiht.
Aber Dominique Strauss-Kahn ist diesen Niederungen enthoben. Er erstrahlt im Glanz des internationalen Parketts und zehrt zudem vom Zauber der verschleierten Schönheit. Sein Schweigen erspart ihm jeden Fauxpas und nährt die Hoffnung, er könne einen Präsidenten abgeben, für den man sich endlich nicht mehr schämen muss.
professor Hierfür sehen die Franzosen auch über einige Knicke im Lebenslauf hinweg: Geboren als Sprössling einer aschkenasisch-sefardischen Familie, wuchs DSK in Frankreich und Marokko auf und brachte es zum Ökonomieprofessor. Parallel zu seiner akademischen Karriere war er langjähriger Bürgermeister und sozialistischer Abgeordneter der Stadt Sarcelles, bekannt durch ihren hohen jüdischen Einwohneranteil.
Aus jener Zeit stammen auch Aussagen wie die, er stehe jeden Morgen mit der Frage auf, wie er Israel nützlich sein könne. Heute gilt DSK als Unterstützer der gemäßigten Genfer Initiative für eine Zweistaatenlösung und die Teilung Jerusalems. Nachdem er trotz erwiesener Unschuld wegen eines Justizskandals von seinem 1997 angetretenen Amt als Finanzminister zurückgetreten war, wagte sich Strauss-Kahn 2005 ins Rennen um eine linke Kadidatur gegen Sarkozy. Er scheiterte jedoch fulminant an der damaligen sozialistischen Hoffnungsträgerin Ségolène Royal.
giftpfeile Nachdem deren Stern wohl endgültig gefallen ist, macht nun der Hype um DSK das politische Lager Sarkozys zunehmend nervös. So schoss jüngst der konservative Fraktionsvorsitzende Christian Jacob Giftpfeile, indem er den Wahlkampf mit den Worten eröffnete, der IWF-Chef sei ungeeignet, da er nicht das ländliche Frankreich und die Verbundenheit mit dem französischen Boden repräsentiere. Diese Auslassungen führten zu einem Sturm der Entrüstung, da sich viele an die antisemitische Hetze gegen die früheren Ministerpräsidenten Léon Blum (1872–1950) und Pierre Mendès-France (1907–1982) erinnert fühlten.
Antisemitisch oder nicht, es ist kaum zu erwarten, dass Strauss-Kahns Chancen auf das Präsidentenamt durch sein Judentum geschmälert würden. Als viel problematischer könnte sich die Diskrepanz zwischen seiner derzeitigen Aura und den politischen Erwartungen der Franzosen herausstellen. So fordert eine Mehrzahl der Franzosen den klaren Bruch mit einem marktverliebten Kapitalismus. Im Wahlkampf zu politischer Positionierung genötigt, könnte der Märchenprinz schnell zum Frosch mutieren.
staatslenker Wie kaum ein anderer steht der Schürzenjäger und Uhrensammler DSK für den Typus des Salonsozialisten, der beste Kontakte zu Industriekreisen pflegt und sich schon als Minister vor allem durch Privatisierungen öffentlicher Betriebe einen Namen machte. Zudem will dem Schwergewicht die Pose des agilen Angreifers nicht so richtig stehen: Er wirkt schon jetzt eher wie ein am Kabinettstisch dirigierender Staatslenker, kaum aber wie jemand, der besonders flink die Stufen zum Präsidentenbüro erklimmt.
Zumindest ein erfolgreiches Vorbild unter seinen Vorgängern auf dem IWF-Chefsessel lässt sich schnell finden: Horst Köhler, der frühzeitig aus dem Amt ausschied, um von Washington ins Berliner Schloss Bellevue zu wechseln.