Frau Leutheusser-Schnarrenberger, in Bonn und in Münster wurden Steine auf eine Synagoge geworfen und israelische Fahnen verbrannt. Wie groß ist die Gefahr für Jüdinnen und Juden?
Wir haben in Nordrhein-Westfalen in den letzten Jahren einen stetigen Anstieg der antisemitischen Straftaten erlebt. Deutschlandweit ist das leider nicht anders. Die Vorfälle am Montagabend in Düsseldorf sowie am Dienstag in Bonn, Münster und auch in Gelsenkirchen sind Handlungen, die sich klar gegen Israel richten. Das Verbrennen israelischer Fahnen oder das Werfen von Steinen auf Synagogen ist offen gezeigter Antisemitismus. Und es sind Straftaten. Ich habe große Sorge, dass rund um die Raketenangriffe der Hamas auf Israel das Problem noch mehr auf deutsche Straßen übergreifen wird.
Trotz der Eskalation im Nahen Osten gab es offenbar bis gestern keinen Polizeischutz rund um die Uhr vor jüdischen Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen. Sollte der seit dem Anschlag in Halle nicht eigentlich selbstverständlich sein?
Wir hatten hier im Land schon zum Zeitpunkt des Anschlags in Halle ein deutlich höheres Niveau an Sicherheit für jüdische Einrichtungen als anderswo. Aber wir erkennen natürlich, dass eskalierende Situationen wie jetzt in Israel schnell zu einer erhöhten Gefährdung von jüdischen Einrichtungen und Gedenkstätten führen können. Deswegen bin ich froh, dass der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul, angeordnet hat, die Sicherheitsvorkehrungen an den Synagogen zu erhöhen. Es reicht ja in solchen Situationen nicht aus, wenn dort einmal am Tag eine Streife vorbeifährt, denn dann bleibt genug Spielraum für jene Leute, die durch Straftaten gegen Juden oder gegen Israel auf sich aufmerksam machen wollen. Solange wir dort einen gewaltsamen Konflikt haben, müssen hier erhöhte Sicherheitsvorkehrungen vorgenommen werden.
Es gab in letzter Zeit einige Demonstrationen in Deutschland, bei denen es zu antiisraelischen oder antisemitischen Äußerungen kam. Was kann man dagegen von staatlicher Seite aus machen?
Es ist sehr schwierig, im Vorhinein Versammlungen zu verbieten. Und Teilnehmende können dort auch allerhand Schmarrn äußern, übrigens auch gegen den Staat. Als Polizei kann man natürlich den Organisatoren von Versammlungen im Vorfeld Auflagen machen. Aber ein Eingreifen oder eine Auflösung ist erst dann möglich, wenn es in eine strafrechtlich relevante Richtung geht. Wir werden durch das Versammlungsrecht nicht verhindern können, dass auf den Straßen leider immer wieder Antisemitismus oder unsägliche Verschwörungsmythen verbreitet werden. Wichtiger als das Versammlungsrecht ist, dass man eine klare Gegenposition formuliert und lautstark widerspricht. Es muss deutlich werden, dass die große Mehrheit der Deutschen den Antisemitismus als absolut untragbar ansieht und ihn verurteilt, und dass es eine kleine Minderheit ist, die diesen judenfeindlichen Statements zustimmt.
Aber stellt sich die Mehrheit wirklich dagegen? Oder ist sie nicht eher schweigsam und manchmal gar gleichgültig?
Die Mehrheit der deutschen Politik und in den Parlamenten, auf Bundes- und auf Landesebene, ist ganz klar solidarisch mit Israel. Angela Merkel hat es ausgesprochen: Das ist in Deutschland Staatsräson. Aber wir brauchen natürlich auch die Zivilgesellschaft. Wir feiern gerade in diesem Jahr 1700 jüdisches Leben in Deutschland. Gleichzeitig gibt es hier Gewalttaten gegen jüdische Einrichtungen, es werden israelische Fahnen verbrannt. Jene, die solche Taten begehen, bringen damit ja symbolisch zum Ausdruck, dass sie den jüdischen Staat nicht haben wollen, dass er vernichtet werden sollte. Die anspruchsvollste Aufgabe ist es, Bürgerinnen und Bürger dazu zu ermuntern und zu ermutigen, sich ebenfalls angesprochen zu fühlen und sich klar und deutlich zu äußern. Es ist wichtig, dass die Solidarität mit Israel jetzt zum Ausdruck gebracht wird.
Die Politik müht sich seit Jahren, das Problem Antisemitismus in den Griff zu bekommen, viele Maßnahmen wurden beschlossen. Trotzdem steigt die Zahl der registrierten Vorfälle stetig. Woran liegt das?
Sicherlich ist der Antisemitismus in den letzten Jahren sichtbarer geworden. Aber er war von Anfang an da, schon bei Gründung der Bundesrepublik 1949. Früher trat er nur weniger offen zutage. Doch schon seit vielen Jahren haben wir ein gravierendes Niveau an Antisemitismus in diesem Land. Die Corona-Pandemie hat das nochmals verstärkt, weil aktuell viele Menschen verunsichert sind. Wenn dann vermeintliche Sündenböcke gesucht werden, trifft es die Juden immer als erste. Das kennt man aus der Geschichte und es wiederholt sich gerade. Einige bedienen diese Ressentiments auch gezielt. Gerade auf Demos werden Menschen instrumentalisiert. Dort sind dann gelbe Judensterne mit dem Schriftzug »Ungeimpft« zu sehen. Andere vergleichen sich mit Sophie Scholl und sehen sich selbst als Widerstandskämpfer. Wieder andere setzen Verschwörungsmythen in die Welt. So werden der Holocaust und die Verbrechen der Nationalsozialisten verharmlost. Das ist schon eine besorgniserregende Situation.
Kann man diese Leute überhaupt erreichen, oder sind nicht alle in ihren Blasen, ihren Echokammern, gefangen?
Diejenigen, die bei Demos nur mitlaufen, um ihren Frust loszuwerden oder um gegen Freiheitseinschränkungen zu protestieren, die aber kein festes antisemitisches Weltbild haben, kann man erreichen. Das sind ja nicht wenige. Es ist sicher mühsam, aber es lohnt sich.
Der überwiegende Teil des Antisemitismus äußert sich heutzutage nicht auf der Straße, sondern im Internet, in den sozialen Netzwerken. Was kann hier getan werden?
Bei einem weltweiten Netz stoßen nationale Maßnahmen schnell an Grenzen. Antisemitischer Hass und Hetze gegen Israel, aber auch Fake News verbreiten sich zudem neuerdings in einem Ausmaß und einer Geschwindigkeit, wie das im Print bzw. offline niemals möglich wäre. Und das was einmal draußen ist, lässt sich nicht wieder einfangen. Neben den vielen Vorteilen der Digitalisierung ist das sicher einer der Nachteile – der Fluch des Internets sozusagen.
Kann staatliche Regulierung da überhaupt etwas bewirken?
Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das man an der einen oder anderen Stelle sicher kritisieren kann, legt Plattformen Berichtspflichten auf und schreibt klare Verfahren vor. Das kann helfen. Die Frage ist, ob die Staatsanwaltschaften nicht hoffnungslos überlastet sind mit dem, was sie da von den Internetbetreibern alles an Informationen bekommen. Das zweite ist, dass man auch im Netz, wenn problematische Äußerungen fallen, couragiert dagegenhalten muss. Es gibt zivilgesellschaftliche Initiativen, die das zum Ziel haben. Aber es müssen hier noch deutlich mehr Anstrengungen unternommen werden.
Das Interview mit der nordrhein-westfälischen Antisemitismusbeauftragten und ehemaligen FDP-Bundesjustizministerin führte Michael Thaidigsmann.