Berlin

Solidarität im Regen

Dauerregen prasselte vom frühen Nachmittag an auf Berlin herab. Kaum waren die Schirmherrin der Demonstration »Nie wieder ist jetzt!«, Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD), der Schlagersänger Roland Kaiser und die anderen prominenten Teilnehmer am Großen Stern im Berliner Bezirk Tiergarten angekommen, dem Ausgangspunkt, setzte starker Regen ein.

Der Regen hörte von diesem Moment an nicht mehr auf und hielt mit Sicherheit viele Berliner davon ab, an diesem Tag gegen Antisemitismus und andere Arten von Menschenfeindlichkeit aufzustehen. Dies war der eher frustrierende Teil. Ohne Regen wären mutmaßlich ohne weiteres zweimal oder dreimal so viele Menschen gekommen. Ermutigend war hingegen die Tatsache, dass viele der 3000 Teilnehmer lange durchhielten - trotz des Wetters.

Zu ihnen gehörte auch Natalie Dedon, die extra aus Israel angereist war. Sie war die auffälligste Teilnehmerin, denn sie trug Kleidung, die an der Brust und im Genitalbereich rot angemalt war. Die Absicht dahinter: »Ich möchte auf die Scheinheiligkeit der UNO-Frauenorganisation aufmerksam machen, die nicht auf die Verbrechen der Hamas an Israelinnen reagierte«, sagte sie der Jüdischen Allgemeinen.

Chanukkia und Adventskranz

Um 13:15 Uhr setzte sich der Demonstrationszug in Bewegung. Bärbel Bas, Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD), Roland Kaiser, Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) und der Publizist Michel Friedman bildeten zusammen mit anderen prominenten den Kopf des Zuges - mit einem überdimensionalen Transparent mit der Aufschrift »Nie wieder ist jetzt!«.

Aufgrund des Regens und des Windes gingen die Kerzen einer Chanukkia und eines Adventskranzes auf der Bühne am Brandenburger Tor, wo die Abschlusskundgebung stattfand, immer wieder aus. Die Gebete und Aussagen von Rabbiner Yehuda Teichtal, Vertretern der beiden großen christlichen Kirchen sowie der liberalen muslimischen Alhambra Gesellschaft gegen Hass und für ein Miteinander machte dieser Aspekt jedoch nicht weniger wichtig.

»Demonstrieren, für das Gute, bei Sonnenschein: Das können viele«, betonte Rednerin Bärbel Bas. »Aber bei diesem Wetter zu kommen - das ist eine besondere Leistung.« Viele Juden fragten sich in diesen Tagen: »Wo sind diejenigen, die aufstehen? Wo ist die Solidarität der Gesellschaft? Wir alle sagen heute: Hier sind wir!«

Schweigen und Gleichgültigkeit

Am Montag sei sie in Bonn in einer Synagoge gewesen, erklärte Bas. Dort hätten ihr Frauen erzählt, dass sie ihre Anhänger mit Davidsternen versteckten und dass die Männer ihre Kippot nicht mehr öffentlich trügen - aus Angst vor Angriffen. »Seit dem 7. Oktober sind antisemitische Straftaten stark angestiegen - auf 29 Fälle pro Tag.« Die Dunkelziffer wird signifikant höher sein.

»Jüdinnen und Juden haben Angst - und sie fühlen sich alleingelassen«, erklärte Bärbel Bas. »Nicht nur Hass erzeugt dieses Gefühl, sondern auch Schweigen und Gleichgültigkeit. Daher ist es wichtig, dass wir hier heute ein kraftvolles, sichtbares, lautes Zeichen setzen. Nie wieder ist jetzt!«

Für die Bundesregierung betonte Minister Hubertus Heil: »Wir stehen hinter Israel! Israel hat das Recht, sich zu verteidigen gegen den Angriff auf jüdisches Leben! Das sind unsere Freunde, unsere Verbündeten!«

Ursache und Wirkung

Den Bewohnern des Gazastreifens wolle Deutschland humanitär beistehen, erklärte der Arbeitsminister. Er stellte jedoch klar, wo die Verantwortung für die Situation in der Enklave liegt: »Wir dürfen nicht vergessen, dass es die Hamas ist, die diese Menschen als Schutzschild nimmt! Es ist die Hamas, die diese Situation verursacht hat! Wir dürfen hier Ursache und Wirkung nicht verwechseln.«

Heil kritisierte alle Judenhasser, darunter »Islamisten, Linksradikale, Schwurbler, aber auch an neue Nazis«. Letztere seien dabei, die Situation auszunutzen, um gegen Menschen muslimischen Glaubens zu hetzen. »Nein, diese Rechtsradikalen sind nicht an unserer Seite. Sie spalten unsere Gesellschaft - und deshalb meinen wir auch sie, wenn wir sagen: Nie wieder ist jetzt!«

»Im Namen der Bundesregierung sage ich sehr deutlich: Wir lassen uns unsere freiheitliche Demokratie, unser Land, unsere Gesellschaft nicht von hasserfüllten Idioten zerstören«, rief der Arbeitsminister den Demonstrationsteilnehmern unter den Schirmen zu.

Zutiefst beschämend

Wenn Entertainer wie Roland Kaiser an Kundgebungen dieser Art teilnehmen, erreichen sie auch Fans in Kreisen, die sich sonst vielleicht nicht um gesellschaftliche Probleme wie etwa Judenhass kümmern. Auch deshalb war seine Anwesenheit wichtig.

Kaiser sprach über die Nazizeit, in der Juden »geschlagen, deportiert und ermordet« wurden. »Genau hier, inmitten unserer so offenen und friedlichen Gesellschaft, fühlen sich Jüdinnen und Juden heute erneut nicht mehr sicher. Sie haben wieder Angst, Hebräisch zu sprechen, sie nehmen ihre Kippa ab, entfernen ihren Namen vom Klingelschild, verleugnen das, was sie sind.« Dies geschehe aus Angst.

»Ich kann es kaum in Worte fassen, was in mir vorgeht, wenn ich sehe, was gerade in unserem Land passiert. Es ist zutiefst beschämend«, erklärte Roland Kaiser, der bereits vor diesem Tag für sein politisches Engagement bekannt war.

Völkerrecht und Verteidigungskrieg

Kai Wegner dankte der Berliner Polizei für all die Überstunden und Dienste, die die Beamten hätten leisten müssen - auch aufgrund des auf den Straßen der Stadt verbreiteten Hasses. »Ich wünsche mir, dass wir - die Berlinerinnen und Berliner - zusammenstehen in dieser schwierigen Zeit«.

Wegner sagte, er habe in den vergangenen Wochen Dinge gesehen, die ihm ganz und gar nicht gefallen hätten. »Es gefällt mir nicht, wenn Menschen auf den Straßen feiern, dass andere Menschen umgebracht werden. Und es gefällt mir nicht, wenn Judenfeindlichkeit und Israelfeindlichkeit auf unseren Straßen nur einen Millimeter Platz haben.«

Für den Zentralrat der Juden in Deutschland übte dessen Präsident Josef Schuster Kritik an jenen, die Israel »nonstop« aufforderten, sich an das Völkerrecht zu halten, während das Land seinen Verteidigungskrieg gegen die Terrororganisation in Gaza führe.

Komplexität oder Abwägungen

»Das kommt von den Leuten, die nicht in der Lage waren, die relativierende Resolution der UNO zum Krieg in Gaza abzulehnen, die nicht in der Lage waren, den historischen Moment in der internationalen Diplomatie zu erkennen, den Moment, in dem es keine Komplexität oder Abwägungen gab, sondern einfach nur eine klare Haltung!«, sagte Schuster.

»Diese Leute weisen nun beständig Israel darauf hin, dass es sich an diese
universellen Gebote der Menschlichkeit zu halten habe. Sie suggerieren also, das sei bei Israel nötig. Sie leisten damit den Verächtern Israels, den Judenhassern in aller Welt Vorschub. Sie bedienen deren Narrative: Die Narrative der Dämonisierung Israels, die in der Ablehnung des
Existenzrechts des Staates münden.«

Es müsse Schluss sein mit diesen Unterschwelligkeiten, so der Zentralratspräsident. »Es ist nicht die Zeit für »Ja, aber«, es ist die Zeit für Solidarität mit Israel, liebe Freundinnen und Freunde!«

Infrastruktur des Terrors

Schuster machte klar: Die Vernichtungsideologie der Hamas richte sich nicht nur gegen Israel, sondern gegen Juden in aller Welt, auch in Deutschland. »Die Lage der jüdischen Gemeinden in Deutschland ist dramatisch. Sie sind massiv unter Druck angesichts des antisemitischen Aufruhrs auf deutschen Straßen – viele von ihnen haben in den vergangenen Wochen direkt antisemitische Angriffe zu spüren bekommen.«

Er erkenne dieses Land nicht wieder, sagte Josef Schuster. »Es ist etwas aus den Fugen geraten.« Noch sei Gelegenheit, dies zu reparieren. »Doch dafür muss man sich auch eingestehen, was in den letzten Jahren schief gelaufen ist, was man nicht hat sehen können oder wollen.«

Ron Prosor, der Botschafter Israels, betonte, die Infrastruktur des Terrors der Hamas müsse komplett beseitigt werden. »Wir alle haben das Ziel, den Terror zu stoppen, damit er nicht die Oberhand gewinnt.« Auf Dauer seien nicht nur Juden durch die Ideologie des Hasses der Hamas gefährdet, sondern Alle.

Dreierlei Maß

Der Diplomat kritisierte die »langjährige und ständige Dämonisierung Israels«. Bei Israel werde nicht nur mit zweierlei, sondern dreierlei Maß gemessen: »Ein Maß für demokratische Staaten, ein Maß für Diktaturen - und ein spezielles Maß für den Staat Israel, das für kein Land auf der Erde erreichbar sei«, sagte Prosor.

Auch kam Prosor auf die weiterhin in der Gewalt der Hamas befindlichen Geiseln zu sprechen. Scharfe Kritik übte er in diesem Zusammenhang am Internationalen Roten Kreuz. Die Organisation habe noch nicht einmal Zugang zu den nach Gaza verschleppten Israelis verlangt.

Prosors amerikanische Botschafterkollegin Amy Gutmann forderte die Deutschen auf, die Demokratie, die Freiheit und den Frieden stets zu verteidigen. Man müsse für diese Werte aufstehen und sich zu Wort melden.

Zersetzende Kräfte

Demonstranten, die sich nach fast zwei Stunden noch nicht in die Trockenheit der U-Bahn oder ihrer Wohnungen zurückgezogen hatten, konnten noch dem Sänger Herbert Grönemeyer zuhören.

In den vergangenen 80 Jahren sei in Deutschland eine offene Demokratie aufgebaut worden, erklärte der Star-Musiker. Schleichend begännen »ausgrenzende, zersetzende Kräfte«, am Fundament dieser Demokratie zu kratzen - durch Antisemitismus, Feindlichkeit gegen Muslime, Rassismus, Fremdenhass und Verachtung für offene Gesellschaften. »Unsere wie auch andere Demokratien sind in Gefahr.«

»Rassismus als Wort ist schon ein Absurdum. Es gibt keine Rassen. Es gibt nur die eine - und das sind Menschen, alle zusammen«, sagte Grönemeyer. »Als Rassist bekämpft man sich somit selbst.«

Zu hoffen ist, dass auch er mit seinen Ausführungen Zielgruppen beeinflussen konnte, die Politiker und Diplomaten nicht erreichen.

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