In den vergangenen Wochen kam es immer wieder zu rassistisch und antisemitisch motivierten Übergriffen. In Berlin wurden drei Jugendliche auf einem Spielplatz brutal angegriffen. Dabei versuchte eine Frau, einem Mädchen ihr Kopftuch herunterzureißen. In Frankfurt wurde ein jüdischer Jugendlicher im Bus antisemitisch angepöbelt. In Langen wurde ein Mann zusammengeschlagen und schwer verletzt, weil er eine antisemitische Attacke beobachtet hatte und dem Opfer helfen wollte. Diese Vorkommnisse sind nur wenige Beispiele für eine sich verdichtende Gewalt, die uns verstören, wachrütteln und solidarisch machen muss.
Solidarisch sein – reicht das? Wird es helfen? Was sind wir bereit zu geben? Nicht nur diese offene Gewalt ist relevant, sondern auch die alltäglichen Mikroaggressionen, die sprachlichen Entgleisungen, die subtilen Zwischentöne. Fragen wie: »Wo kommen Sie denn her? Sie haben so einen fremd klingenden Namen!«, »Sie sehen aber gar nicht deutsch aus«, oder auch: »Sie haben sogar studiert!« Wenn wir dem begegnen wollen, was brauchen wir selbst an Anerkennung und Solidarität, um die Stimme zu erheben?
chancen Die Stimmung wird rauer. Aber es scheint, dass die gesellschaftspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre womöglich auch Chancen bieten, auf eine stärkere Verbindung zwischen den verschiedenen Communitys hinzuarbeiten, um Allianzen zu schmieden, die tragfähig sind. Dabei sollten wir ausloten: Haben wir gemeinsame Erfahrungen? Sprechen wir über Unterschiede? Wo verlaufen die Grenzen? Welche Rolle spielt der steigende Antisemitismus, der Rechtsruck, die Gewalt gegenüber Minderheiten? Was sehen wir, und was übersehen wir?
Anteilnahme kann niemals nur angeordnet werden. Sie ist kein moralischer Imperativ.
Menschen, die Erfahrungen einer Minderheit mitbringen, brauchen stärkende und streitbare Erfahrungsräume, wo sie Kraft schöpfen und teilen können, damit ihre eigenen Wahrnehmungen sicher platziert, kontroverse Positionen ausgehandelt und wirkungsvolle Koalitionen erschlossen werden können. Ein solcher Dialog- und Erfahrungsraum ist eine außergewöhnliche Gelegenheit für einen Neubeginn der Eigenreflexion, des Austauschs und der Verständigung, die erst dann möglich sind, wenn es den unterschiedlichen Gruppen gelingt, ins Gespräch zu kommen, ohne dass ihre Perspektiven durch vergleichende Relativierungen abgewertet werden.
Dabei ist es ausgesprochen wichtig, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse als Ganzes in den Blick zu nehmen, Ausgrenzungsphänomene zusammenzudenken, ihre Singularitäten herauszuarbeiten, um zu verstehen, unter welchen Bedingungen Antisemitismus, Rassismus sowie alle anderen Formen menschenverachtender Ideologien ausgelöst, ermöglicht und aufrechterhalten werden.
handlungsmacht Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist die Überwindung der Sprachlosigkeit und Zurückgewinnung der Handlungssicherheit und der Handlungsmacht. Das Bewusstsein für historische Kontinuitäten und Effekte menschenverachtender Gewalt mit all ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten ist dabei zentral.
Gleichwohl darf der Solidaritätsbegriff nicht idealisiert werden, denn die Anteilnahme kann niemals nur angeordnet werden. Solidarität ist wesentlich mehr als Mitgefühl, mehr als Empörung und kein moralischer Imperativ. Es geht darum, trotz Voreingenommenheit oder auch historisch gewachsener Vorsicht eingebunden und handlungsfähig zu sein, wenn andere Menschen oder Gruppen entwürdigt, ja entwertet werden, und aktiv darauf einzuwirken, dass diese Gewalt endlich aufhört.
Solidarisch sein – reicht das? Wird es helfen? Was sind wir bereit zu geben?
Solidarität ist eine Form der Verbundenheit, die erst möglich wird, wenn wir uns gefühlt in ein und demselben gesellschaftlichen Raum einfinden und uns grundsätzlich als gleichwertig begreifen, ohne dass Unterschiede aufgehoben werden. Solidarität ist demzufolge auch eine Verbundenheit trotz Differenz. Sie ist zugleich aber auch eine Verbundenheit wegen der Kontraste. Die Gewalt wird genau dort wirksam, wo der Aggression, dem Hass gegen Minderheiten, egal welche Minderheiten, nicht widersprochen wird.
protest »Solidarisiert euch!« ist eine Aufforderung, verbunden und politisch zu sein. Es ist auch ein Aufruf an Jüdinnen und Juden, sich noch stärker an politischen Prozessen zu beteiligen und antidemokratischen Positionen aktiv zu widersprechen. Innerhalb der jüdischen Community werden seit Langem Stimmen laut, die noch mehr Protest aus der Mitte der Gemeinschaft fordern.
Gemeinsam kann es gelingen, die Permanenz rechter, rassistischer, antisemitischer Gewalt aufzuzeigen.
Ohne die behutsame Selbstreflexion, ohne die Veränderung von innen, ohne die Kritik an vertrauten Konzepten und Selbstverständnissen wird es aber schwierig mit Koalitionen. Dieser Balanceakt erfordert angesichts der zunehmenden politischen Polarisierung ein hohes Maß an Sensibilität, Sprachfähigkeit, individueller und kollektiver Verantwortung.
Gemeinsam kann es gelingen, die Permanenz rechter, rassistischer, antisemitischer Gewalt aufzuzeigen und politische Interventionen einzufordern. Hierfür bedarf es der Fähigkeit, uns über unsere Gemeinsamkeiten, aber auch über Differenzen und Konfliktlinien zu verständigen.
Die Autorin ist Leiterin des Kompetenzzentrums für Prävention und Empowerment der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST).