Wer das »Zentrum Juden und Christen« beim diesjährigen Evangelischen Kirchentag in Hamburg besuchen wollte, wurde als erstes von Piraten und ihren Wahlflyern begrüßt. Für sie war die Sache klar: Sie fordern rigoros die Abwicklung der bestehenden komplexen Beziehung zwischen Staat und Kirche in Deutschland. Eine »Privatisierung der Religion« nennen sie das. Sie sind nicht alleine. Auch in anderen Parteien machen die Anhänger des Säkularismus immer deutlicher, dass ihnen der Sicherheitsabstand zwischen Staat und Religion mittlerweile zu knapp geworden ist. Auffahrunfälle seien zu befürchten.
Die Debatten der vergangenen Monate zeigen: Auf uns rollt eine Diskussion zum Verhältnis von Religion und Demokratie zu. Zeit zum Nachdenken darüber, was uns an diesem Verhältnis wichtig und was reformbedürftig erscheint. Denn mit einem Pauschalverweis auf Artikel 140 des Grundgesetzes, der die Grundlage für das heutige Staatskirchenrecht legt, ist es längst nicht getan. Zu viele Fragen, von Beschneidung über Kirchensteuer bis hin zu Arbeitnehmerrechten in den religiösen Einrichtungen, können in einer pluralistischen Demokratie formal-legalistisch nicht mehr beantwortet werden.
institutionen Braucht unsere Gesellschaft heute überhaupt noch starke, hervorgehobene religiöse Institutionen oder sind sie in einer Demokratie wie unserer längst überholt? Jeder darf alles glauben, aber bitte schön in seinem Wohnzimmer und auf eigene Kosten – ist dies das Leitbild unseres religiösen Zusammenlebens?
So einfach lässt sich eine Privatisierung des Glaubens vielleicht auf den Wahlflyern, aber nicht in der Realität erreichen. Denn auch ein säkularer Jude, wie der Autor dieser Zeilen, muss anerkennen, dass Kirchen und Religionsgemeinschaften eine gesamtgesellschaftliche Relevanz weit über das Repräsentative hinaus besitzen. Dies liegt nicht nur daran, dass ausgerechnet kirchliche Einrichtungen in manchen Orten und Lebensbereichen eine überragende, ja fast exklusive Rolle als Dienstleister spielen. In zahlreichen kleinen Städten sind sie alleinige Betreiber von Kindergärten oder Krankenhäusern.
sachzwänge Unabhängig von diesen faktischen Sachzwängen ist die identitäre und ethische Rolle von Religion kaum zu unterschätzen. Entgegen dem Eindruck, der in manch einer Großstadt entstehen mag, bildet Religion für viele die Grundlage ihrer Identität, und für alle zusammen eine conditio sine qua non der Pluralität. Unsere gesellschaftliche Vielfalt, will man sie denn überhaupt erhalten, ist ohne Religionsgemeinschaften (und ja, auch ohne die christlichen Kirchen!) nicht vorstellbar.
Nicht zuletzt brauchen wir sie auch als Rückzugs- und Besinnungsräume, um dem materialistischen Alltag zu entfliehen oder unsere schnelllebige Gegenwart in der weitreichenden (positiven wie negativen) Vergangenheit zu erden. Nicht minder wichtig: Religionsgemeinschaften sind eine gemeinschaftsorientierte Antwort auf die Atomisierung, die Konsum und Individualismus des globalen Kapitalismus mit sich bringen.
wahlsprüche Die Feststellung, dass wir Religion brauchen, beantwortet nicht die Frage, wie viel davon im politisch-öffentlichen Raum eine Rolle spielen soll. Hier wird es konkret, aber auch hoch kompliziert. Statt knackige Wahlsprüche zu klopfen, müsste an dieser Stelle also bereichsorientiert diskutiert werden, welche Korrekturen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften nötig sind. Von Feiertagsregelungen über den Status der Religionsgemeinschaft bis hin zum individuellen und kollektiven Arbeitsrecht: In jedem konkreten Bereich muss das Verhältnis Staat–Religion austariert werden. Insofern stehen wir heute am Anfang, nicht am Ende eines langen Dialogs.
Wichtig ist, sich dabei auf einige der Grundregeln eines solchen Dialogs zu einigen. Zu diesen gehört, dass die Diskussion nicht auf das Verhältnis zu den Kirchen verengt wird. Aus Erfahrungen kleinerer (etwa der jüdischen) Religionsgemeinschaften ergeben sich neue, oft unerwartete Argumente sowohl für wie gegen Reformen im konkreten Bereich. Und jedwede politische Entscheidung wird bei diesen Fragen unterschiedliche Religionsgemeinschaften unterschiedlich treffen. Ihre Stimmen sind also entscheidend.
aggressionen Ein Dialog ist auch nur möglich, wenn man die wichtigen säkularen Perspektiven einbezieht. Ihre Vertreter müssen sich aber wiederum auf einen solchen Austausch einlassen und nicht in einer Fundamentalopposition verharren. Aggressionen, wie sie etwa im Zuge der Beschneidungsdebatte zutage getreten sind, können keine Grundlage für einen Dialog bilden. Nicht zuletzt müssen wir bei der Frage des Verhältnisses von Staat und Religion die Rechts-Links-Schematismen vermeiden.
Zwischen »progressiv« und »religiös« besteht kein Widerspruch. Auch an dieser Stelle müssen wir herkömmliche Denkmuster überprüfen und eigene Positionen infrage stellen können. Nur wenn alle Seiten sich auf einen solchen produktiven Dialog einlassen, haben wir eine Chance auf gemeinsame Visionen, die mutig wie bedächtig sind.